: „Ich empfehle ein psychiatrisches Testament“
Peter Lehmann vom Europäischen Netzwerk Psychiatriebetroffener fordert ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit für Patienten
taz: In der Selbsthilfebewegung wird die traditionelle Psychiatrie oft als reine Unterdrückungsmaschinerie dargestellt. Aber jetzt mal ganz praktisch: Was soll man tun, wenn jemand austickt und Wahnideen entwickelt?
Peter Lehmann: Dann sollte man zuhören.
Und wenn er einfach losgeht und in sein Auto steigt?
Dann sollte ihm vielleicht der Autoschlüssel weggenommen werden. Es kann sogar in Extremfällen sinnvoll sein, Menschen, die in nachweisbarer Gefahr sind, sich oder anderen im Zustand der Verrücktheit etwas anzutun, in ein Asyl, wo sie geschützt sind, einzusperren.
Was ist da der Unterschied zur traditionellen Psychiatrie?
In dem Asyl darf ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht verletzt werden.
Und wie werden sie dann behandelt?
Ich empfehle grundsätzlich, rechtzeitig ein psychiatrisches Testament zu verfassen. Hier kann ich meinen Wunsch hineinschreiben, ob und wie ich behandelt werden will. In dieser Vorausverfügung äußere ich meinen individuellen Wunsch, und dies schützt mich vor Zwangsbehandlung.
Wie verbindlich sind psychiatrische Testamente?
Das wird in den Anstalten unterschiedlich gehandhabt. Rechtskommentare werten solche Vorausverfügungen zunehmend als rechtswirksam.
Viele Mitglieder der Selbsthilfebewegung verurteilen Psychopharmaka. Es gibt aber auch viele Fälle, wo Leute sagen, die Medikamente hätten ihnen geholfen. Darüber kann man doch nicht einfach hinweggehen.
Ich verurteile die gewaltsame Verabreichung, die Verabreichung ohne Information über die Risiken, ohne Berücksichtigung einer möglichen Schwangerschaft, ohne stationäre Entzugsmöglichkeiten, ohne Aufklärung über Alternativen.
Es gibt aber viele Psychiater, die betonen, gerade in der Erstbehandlung sei es wichtig, so früh wie möglich Psychopharmaka zu verabreichen.
Meiner Meinung nach wird den Betroffenen damit eine reflektierte Bearbeitung der vorhandenen Probleme verbaut. Als Psychiatriepatienten geraten sie auf den Weg in eine Psychopharmaka-Abhängigkeit, die ihre Grundbelange im Irrglauben an die eingeredete Notwendigkeit von deren Einnahme und in Rezeptorenveränderungen hat. Man darf nicht vergessen, dass Neuroleptika extrem suizidfördernd wirken können und in Verdacht stehen, bei Frauen das Brustkrebsrisiko zu verzehnfachen – um nur zwei tabuisierte Gefahren von vielen zu nennen.
Angeblich haben aber in den USA auch schon Patienten, die keine Neuroleptika bekamen, hinterher geklagt: Sie warfen den Ärzten Behandlungsfehler vor, eben weil diese keine Medikamente verabreichten.
Ja, das ist ein sehr heikles Thema. Auch der deutsche Psychiater Asmus Finzen hält es trotz der Tatsache, dass selbst nach der offiziellen Lehrmeinung so genannte akute Psychosen spontan abklingen können, für einen Kunstfehler, mit der Verabreichung von Neuroleptika abzuwarten. Auch wegen dieser rechtlichen Unsicherheit empfehle ich nicht nur die rechtzeitige Information über mögliche Behandlungsschäden, sondern eben das Abfassen eines psychiatrischen Testaments.INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH
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