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Seltsame Tage

„Sagen Sie, haben Sie denn keine eigene Sozialisation mit den Doors gehabt?“ – „Doch, klar. Die Doors gehören zu meiner Jugend wie Wachs auf den Fingerkuppen und einsame Heimwege nach Partys, wie billiger Wein und selbst gedrehte Zigaretten.“ Eine Erzählung zum Todestag von Jim Morrison

von SVEN LAGER

„Break On Through To The Other Side“, ruft ein Taxifahrer mit Lederweste und rast im Berliner Wedding über eine rote Ampel, „This Is The End, My Only Friend, The End“, singt eine dralle Blonde mit Vokuhila von der BVG und schnippt ihre Kippe auf die einfahrende U-Bahn-Linie 1. Drei Schülerinnen, die in ihren bauchfreien T-Shirts in der Morgensonne über den Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg schlendern, summen „Baby, Baby, Light My Fire“, weil gerade ein junger Mann in weißen Jeans an ihnen vorbeigeht.

„Moment mal“, sagt die eine, sie muss mal eben ihren Schlüpfer unter der engen Jerseyhose zurechtzupfen, „wer hat das noch mal gesungen?“

„Die Doors, du Dummchen, Jim Morrison!“

„Jim Morrison? Kenn ich nicht.“

„The Doors!“

„So wie: Die Türen?“

„Genau, Die Türen der Wahrnehmung.“

„Was?“ Die Mädchen prusten los und knicken dabei ein, „geil!“

Sie schnorren ein paar Zigaretten, und eine Regenwolke schiebt sich über den Platz. Es riecht nach Farn.

„Entschuldigen Sie“, der Junge in der weißen Jeans, der einfach nur um den Platz gelaufen ist, geht plötzlich neben mir, „wie war das mit der Wahrnehmung?“

„ ‚The Doors of Perception‘ hieß das Buch, nach dem die Doors ihre Band benannt haben. Es ist ein Buch von Aldous Huxley über Drogenerfahrungen.“

„Oh“, sagt er und wedelt mit seiner Mappe, „mit Drogen hab ich nichts am Hut.“

„Das macht nichts. Rockmusik wurde ja unter Drogeneinfluss hergestellt, damit man selber keine mehr nehmen muss. Nur dass die Rockmusiker davon recht schnell verstorben sind, so wie auch Jim Morrison, der Sänger der Doors.“

„Aha“, sein Handy klingelt. „Drei Päckchen“, sagt er nur und legt wieder auf, „Entschuldigung.“

„Er starb genau heute vor 30 Jahren, in einer Badewanne in Paris.“

„Wie Barschel“, sagt einer der Arbeitslosen, an denen wir gerade vorbeikommen.

„Wie Jean-Paul Marat!“, ruft sein Nachbar auf der Bank und streicht sein T-Shirt glatt. Hard Rock Café Genf.

„Genau, nur der eine durch Selbstmord, vielleicht, der andere durch Mord, ziemlich sicher. Jim Morrison aber starb an Herzversagen.“

„Also doch Drogen“, wirft der junge Mann ein und blickt ernst.

„Vielleicht, das Zeug wurde zu der Zeit tütenweise eingeworfen, und Alkohol trank man ja gleich aus großen Flaschen. Und dazu hatte man Sex, bis zum Anschlag, bis man nicht mehr konnte. Wenn man den Leuten glaubt, die dabei waren.“ Die Arbeitslosen schauen unzufrieden auf ihre Dosen.

„Janis Joplin, Jimi Hendrix, John Lennon, alle tot“, murmelt eine Frau in einem grauen Geschäftsanzug, die bei uns stehen geblieben ist.

„Kurt Cobain“, rufen die Mädchen und bleiben auch stehen. Ein Moment der Stille entsteht und ein Wind geht durch die Bäume, der die Tropfen der Blattläuse fortweht.

„Er wurde dann auf dem Friedhof Père Lachaise begraben, in Paris, und jedes Jahr kommen seine Fans und setzen sich ans Grab, trinken Wein und singen seine dunklen Lieder. Besonders schlimm ist es an den Jahrestagen. Vor zehn Jahren an seinem 20. Todestag gab es richtig Ärger. Sie ließen die Fans nicht rein, also versuchten seine Fans, das Tor aufzubrechen. Jetzt ratet, was sie dabei gesungen haben?“ Der Taxifahrer mit der Lederweste kommt plötzlich aus den Büschen und schwenkt seine Kappe.

„Genau“, sage ich, „dann versuchten sie das Tor anzuzünden und sangen . . .“, die Mädchen kichern. „Ein Junge tanzte vor den Reihen der Polizei und rief ‚come on, come on, touch me, babe, for I am not afraid . . .‘, dann gab’s Tränengas und Hiebe.“

„Woher weißt’n des alles“, fragt einer der Alkoholiker. Er sieht aus wie dem Taxifahrer aus dem Gesicht geschnitten.

„Internet. Und dieses Jahr soll’s noch schlimmer werden. Irgendjemand hat behauptet, sie würden ihn wieder ausgraben.“

„Exhumieren“, sagt die Frau im Anzug.

„Wen?“, fragt der junge Mann, er schreibt gerade einem der Mädchen seine Telefonnummer auf.

„Den Lizard King, du Blödmann“, schnauzt der Taxifahrer, „den König der Eidechsen, nimm mal die Erbsen aus den Ohren!“

„Für dich immer noch Sie, Gurkennase.“ Er macht eine Karatebewegung in seinen engen Hosen, und der Taxifahrer nimmt ihn in den Schwitzkasten.

Beide fallen um und wälzen sich auf dem Boden. Die Mädchen, ich und die Frau im Anzug gehen weiter. Sie gibt mir ihre Visitenkarte.

Projektberatung alternative Energien. Sie heißt Susanne und hat eine angenehm rauchige Stimme:

„Père Lachaise, da liegen Edith Piaf, Oscar Wilde, Jean Paul und Simone, beide Simones, Signoret und de Beauvoir, aber für die steht keiner auf der Straße und singt.“ Jogger kommen vorbei, ältere Mütter mit Lippenstift und modernen, dreirädrigen Buggys. Wir kommen vorbei am U-Bahn-Eingang an der Ostseite des Platzes, wo die Vokuhilafrau in ihrem blauen BVG-Anzug steht. Sie hat sich eine neue Zigarette angezündet.

„Ich hab hier was“, sage ich und ziehe einen Ausdruck aus der Tasche, „aus dem Gästebuch einer Doors-Homepage. Am 14. Februar 2001 schreibt Melanie:

‚Jim Morrison ist der beste Sänger der ganzen Welt, und nicht nur das, seine Texte und Gedichte sind der volle Wahnsinn, hübsch war er auch noch dazu. Ich frag mich immer, wieso er nicht mehr lebt. Doch auch ein Lob an die Band, auch nach seinem Tod haben sie großartige Lieder geschrieben, denen aber nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Für die Menschenmenge war Jim The Doors und nicht die ganze Band, was ich allerdings nicht richtig finde!!!!! Grüße an alle Doors-Fans.“ Eins der Mädchen verdrückt eine Träne und kramt in ihrer Tasche. Sie verteilt Kaugummi. „Voll schön“, sagt eine andere und lässt ihr Papier auf den Boden fallen, „sah der Typ echt so gut aus?“

Ich zeige ihnen ein Bild, auf dem Jim Morrison sich gerade nachdenklich umdreht, als ob man ihn gerufen hätte. Er hat seine Lippen herausgestülpt.

„Wooah“, die Mädchen stecken ihre Köpfe zusammen, „wie Enrique Iglesias.“

„Nee, wie Ricky Martin.“

„Sag mal, seid ihr jetzt voll bescheuert, wollt ihr ihm jetzt einen blasen, oder was?“, schreit die Dritte, und sie ziehen gleichzeitig an dem Foto, bis es zerreißt. Sie laufen schreiend hintereinander her.

„Blasen, Schlucken, Gurgeln“, sagt die die Vokuhilafrau, die plötzlich neben uns am Brunnenrand sitzt. Sie sieht aber in den Himmel, der voller Schäfchenwolken ist wie geronnener Samen. Wir sehen sie einen Moment an, aber sie sagt nichts mehr.

„Sagen Sie“, fragt mich die Anzugfrau, „haben Sie denn keine eigene Sozialisation mit den Doors gehabt?“ Ich sehe zum ersten Mal, dass sie ziemlich oft zwinkert. Ich überlege.

„Doch, klar. Die Doors gehören zu meiner Jugend wie Wachs auf den Fingerkuppen und einsame Heimwege nach Partys, wie billiger Wein und selbst gedrehte Zigaretten, bei denen einem die Fussel im Mund hängen bleiben.“

Taxifahrer und junger Mann stehen in den zerwühlten Blumenbeeten und küssen sich.

„Ich meine“, sie unterstreicht ihre Worte geschult mit den Händen, „haben Sie denn keine eigene Erfahrung mit den Doors?“

„Klar. Ich war vier Jahre alt. Meine Mutter hatte sich gerade von dem Mann getrennt, der nicht mein Vater war, und zog in ihre erste eigene Wohnung. Sie hatte viel Besuch von langhaarigen Männern und Frauen, mit denen sie nächtelang diskutierte. Sie strich ihre Küche gelb und violett, und dann kaufte sie an einem Nachmittag alle Platten, die später für mich wichtig wurden: Velvet Underground, Rolling Stones, Beatles, Credence Clearwater Revival, Jimi Hendrix und Simon and Garfunkel.“

Die Mädchen grölen mit den Alkoholikern auf der Bank und schreien: „Mehr Bier!“

„Aber die Doors hat sie erst Jahre später geschenkt bekommen.“ Die Vokuhilafrau fällt in den Brunnen und die Fontäne geht an. Es ist elf Uhr.

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