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Wissenschaftler vermuten Atomunfall in der Geest

■ Angereichertes Uran nachgewiesen, mögliches Szenario entworfen

Wissenschaftler der Arbeitsgemeinschaft Physikalische Analytik und Messtechnik (Arge PhAM) wollen ungewöhnlich viel angereichertes Uran in der Umgebung der Atomanlagen bei Geesthacht entdeckt haben. Angesichts der von dem Weinheimer Diplom-Ingenieur Heinz-Werner Gabriel zuvor entdeckten PAC-Kernbrennstoff-Teilchen verdichtet sich damit für die Arge PhAM der Verdacht, es könnte einen vertuschten Atomunfall im Kernforschungszentrum GKSS gegeben haben. „Wir kommen immer näher ran“, sagte Ute Watermann von den Internationalen Ärzten für die Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), gestern bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Arge PhAM.

Gabriels Szenario zufolge könnte Folgendes passiert sein: Die GKSS forscht Mitte der 80er Jahre an der Anreicherung von Kernbrennstoff mit Hilfe von Plutonium-Americium-Curium-, kurz: PAC-Teilchen. Gabriel will die Reste von 200 bis 300 solcher Teilchen in der Umgebung der Atomanlagen gefunden haben. Sie seien 10 bis 100 Tau-sendstel Millimeter groß, hätten eine Hülle aus Aluminium oder Eisenoxid und seien mit weniger als einem Gramm Kernbrennstoff gefüllt gewesen. Werde ein solches Ei mit einem Laserstrahl beschossen, explodiere es. Dabei frei werdende schnelle Neutronen erbrüteten aus dem umgebenden Uran und Thorium große Mengen Kernbrennstoff. Ein solcher Versuch müsse wohl schief gegangen sein.

Für Gabriel gibt es eine „dichte Indizienkette“, die ein solches Szenario plausibel macht. Sie beginnt mit einer mikroskopischen Aufnahme von einem eiförmigen Teilchen mit einem Loch darin – wie er sagt, vom Laser. Die Teilchen können Gabriels Meinung nach nicht natürlich entstanden sein. Einzelne seien miteinander verbacken, was durch chemisch erzeugte Hitze nicht geschehen sein könne. Dazu kämen die erhöhte Menge angereicherten Urans, erhöhte Vorkommen von Plutonium 238, 241, Americium und Thorium, letzteres ein Element das besonders schnell zu brüten sei.

Das Energieministerium in Kiel wies demgegenüber auf die kürzlich veröffentlichten fünf Gutachten hin, nach denen keine erhöhte Radioaktivität festgestellt worden sei (taz berichtete). Was in der damaligen Pressemitteilung nicht steht: Die zitierte Bewertung der Strahlenschutzkommission war nicht abschließend. Und zumindest einer der damals zitierten Gutachter, der Marburger Kernchemiker Wolfgang Ensinger, hält sein Zitat für leicht missverstehbar: Es widerlege Gabriels Behauptungen nicht.

Ensingers emeritierter Amtsvorgänger Reinhardt Brandt stärkte Gabriel im Rahmen der Arge PhAM explizit den Rücken. „Das hab' ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen“, kommentierte er einzelne Messergebnisse.

Während Energiestaatssekretär Wilfried Voigt (Grüne) im Januar gegenüber der taz vermutet hatte, dass es den Brennstoff PAC „offenbar gar nicht gibt“, ist PAC laut Ensinger „aktenkundig“ und „in der Literatur bekannt“. Das Bundesamt für Strahlenschutz jedenfalls wollte sich Kiel gegenüber nicht äußern, ohne zuvor den Bericht der Arge PhAM zu den Teilchen geprüft zu haben. Gernot Knödler

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