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Nachbarschaftshilfe

Wie es sich Katrin und ihr Sohn Sebastian in anderer Leute Wohnung gemütlich machen. Eine Kurzgeschichte von ROBERT NAUMANN

Sie heißt Katrin und ist krank im Kopf. Das nehme ich zumindest an. Aber vielleicht ist das ja nur mein Betrachtungswinkel. Sie wäre mir ziemlich gleichgültig, wenn sie nicht vor einem halben Jahr nach Buchholz in die Wohnung unter uns gezogen wäre.

Schon unsere erste Begegnung im Treppenhaus war mir ziemlich suspekt. Ich sagte „Hallo“ und versuchte, mich an ihr vorbeizuwinden, doch sie hielt mich fest und nutzte die Gunst der Stunde, um mir ihre komplette Biografie zu erzählen. Wenn sie sich in der Chronologie verhedderte, scheute sie sich nicht, von vorn anzufangen. Ihre ersten Worte waren: „Ej, hallo, ich bin die Katrin, ich komm aus `ner Kreuzberger WG, aber wir sind ja hier auch so was wie `ne große WG, ha ha, lass uns Du sagen.“

Daraufhin legte sie mir den Arm um die Schultern, drückte mich zum Sitzen nieder auf die Treppenstufe und begann zu erzählen. Sie meinte, es schade nichts, wenn ich ein wenig über ihre präembryonale Phase erfahren würde, und berichtete mir, wie sich ihre Eltern kennen lernten. Drei Stunden später, sie war gerade bei der sehr farbenfrohen Schilderung ihrer Geburt, rettete mich das Klingeln ihres Handys.

„Mein Sohn“, rief sie, „das ist mein Sohn“. „Oh mein Gott“, dachte ich, „sie hat einen Sohn.“ Aber ich war ihm dankbar für die Unterbrechung. „Na denn“, sagte ich und schickte mich zum Gehen an. Sie hielt mich fest. „Ich kann’s auch klingeln lassen“, schlug sie vor. „Die Suppe!“, rief ich konfus und verzweifelt, „die Suppe kocht über!“

Ohne abzuwarten, ob sie meine zugegebenermaßen recht stümperhafte Ausrede akzeptieren würde, riss ich mich los und hastete nach oben. Hörte ich Schritte oder war es mein eigenes, bis an den Hals klopfendes Herz, das mir einen akustischen Streich spielte? Ich erreichte die Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr: Da stand sie, am Fuß der Treppe, hielt mir ihr Handy hin und sagte irre grinsend: „Mein Sohn, er will dich sprechen!“

Irgendwie schaffte ich es, den Schlüssel im Schloss zu drehen, die Tür zu öffnen und sie hinter mir wieder zuzuschlagen. „Die hat `ne Macke“, meinte meine Frau, als ich ihr alles erzählt hatte. Zum ersten Mal in unseren fünf gemeinsamen Jahren musste ich ihr zugestehen, dass sie Recht hatte. Wir beschlossen, die Wohnung nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt nötig sei, um Begegnungen im Treppenhaus zu vermeiden. Und die Tür erst zu öffnen, wenn wir einen Blick durch den Spion geworfen hatten. Aber schon bald mussten wir feststellen, dass unsere mitteilsame Nachbarin es als sportliche Herausforderung betrachtete, diese Abwehrmaßnahmen zu überwinden.

Als es am nächsten Tag klingelte, erblickte ich durch den Spion einen etwa vierzehnjährigen Jungen, dessen Gesichtszüge mir irgendwie vertraut waren. Arglos öffnete ich die Tür, und plötzlich wusste ich, warum mir das Gesicht bekannt vorkam. Aber es war schon zu spät. Blitzschnell hatte er einen Fuß zwischen Tür und Rahmen gestellt und rief die Treppe hinunter: „O.K. Mama, du kannst kommen, ich hab’s geschafft!“ Fassungslos sah ich zu, wie Katrin die Treppe hochkam, zwei Flaschen Rotwein schwenkend. „Hallo“, sagte sie, „kann man bei euch rauchen?“ „Mach die Tür zu!“, schrie meine Frau verzweifelt und mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

„Geht nicht“, schrie ich zurück, nicht weniger verzweifelt. Zehn Sekunden später saßen Mutter und Sohn auf unserer Couch, entkorkten den Rotwein und meinten, das wäre eine prima Gelegenheit, sich mal richtig kennen zu lernen. Die beiden ergänzten sich fabelhaft, und Katrins Sohn Sebastian war ihr mindestens ebenbürtig. Die Worte flossen aus seinem Mund wie der Niagarafall, und ähnlich feucht war seine Aussprache.

Meine Frau und ich sind gut erzogen, aber nach einer Stunde hörten wir auf, Interesse zu heucheln. Nach einer weiteren Stunde entfernte sich meine Frau und legte sich schlafen. Ich hatte nichts anderes von ihr erwartet. Sie war immer gern bereit, mich im Stich zu lassen.

Als Katrin ihren Sohn losschickte, um weiteren Rotwein zu holen, wagte ich nicht zu protestieren. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion. Wie durch Watte hörte ich, wie sie mich bat, die Vaterrolle für Sebastian zu übernehmen, er sei jetzt in so einem schwierigen Alter. „Ja ja“, stimmte ich schicksalsergeben zu. Alle Abwehrkräfte hatten mich verlassen.

Sebastian kam mit drei Flaschen Rotwein zurück und ließ sich ein heißes Bad ein. „Unser Abfluss ist verstopft“, sagte er. Gegen Mitternacht bat mich Katrin um eine Decke, sie wolle jetzt schlafen. Ich nahm ein letztes Mal meinen Mut zusammen und wies vorsichtig daraufhin, dass ihr Nachhauseweg relativ kurz wäre, da ihre Wohnung doch nur eine Etage tiefer sei. Sie fing bitterlich an zu weinen und ich vernahm die Wortfetzen: „. . . einsame Frau . . .“, „. . . ein bisschen menschliche Wärme . . .“ und „. . . Nachbarschaftshilfe . . .“ Ich gab endgültig auf, wünschte ihr eine gute Nacht und ging voller Selbstzweifel zu Bett.

Gestern sind sie dann bei uns eingezogen. Heute Morgen haben sie angefangen zu malern, sie hätten gern einen kräftigen Blauton, haben sie gesagt.

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