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Die Einsamkeit des Karl H.

Der Hamburger Pflegedienst Solidarische Hilfe kümmert sich ausschließlich um Opfer des Nationalsozialismus  ■ Von Michaela Soyer

Die meiste Zeit des Tages verbringt Karl H. in seinem Bett. An der Wand hängen zwei Fotos, Karl von Ossietzky und Kurt Tucholsky. Darunter steht ein Regal mit Ausgaben der Satirezeitschrift Simplicissimus und das Buch Wie links können Journalisten sein.

Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß Karl H. mit seinem Vater einen Buchladen. Dann sperrten die Nazis ihn, den Kommunisten, mehrere Monate ins KZ Fuhlsbüttel. Nach seiner Freilassung musste Karl H. mit dem Strafbataillon 999 für politische Gefangene in Nordafrika kämpfen.

Karl H. ist verwitwet und kinderlos, Familienfotos hat er nicht aufgestellt. Der Ein-Zimmer-Wohnung ist das das Alter ihres Bewohners nicht anzusehen. Es wirkt, als hätte der 95-Jährige nur das Nötigs-te ins Alter gerettet. Wie eben den Simplicissimus, für den Karl H. als Journalist nach dem Kriege geschrieben hat. Jetzt ist sein Gesicht schmal, und die wenigen weißen Haare sind ungekämmt. Zerbrechlich liegt er unter seiner Decke. Blaue Adern und braune Altersflecken überziehen seine steifen Hände.

Auf der Fensterbank steht der silberne Grundig-Kassettenrecorder, den sein Pfleger Jony Schanz besorgt hat. Er arbeitet bei der Hamburger „Solidarischen Hilfe im Alter“. Der Pflegedienst kümmert sich seit 1996 um Opfer des Nationalsozialismus und deren Angehörige. Wie jeder andere Pflegedienst auch finanziert er sich über die Krankenkassen oder Zuzahlungen der Patienten.

Die in Deutschland einmalige Idee zur „Solidarischen Hilfe“, enstand zum 50. Jahrestag der Befreiung. Traute Springer-Yakar, Mitglied des Gründungsteams wollte etwas für die alten Genossen tun: „Ich habe von klein auf erlebt, dass sie immer wieder für ein antifaschistisches Deutschland eingetreten sind.“ Springer-Yakar arbeitet eng mit der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“ (VVN) zusammen. Ein Großteil der 50 Patienten ist über den VVN zur „Solidarischen Hilfe“ gekommen. „Das Potenzial“, schätzt sie, „ist größer“. Viele Interessenten hätten noch keine Anträge gestellt, weil sie den Behörden misstrauen würden. Jony Schanz und Springer-Yakar kennen sich schon seit 13 Jahren. „Vieles was ich über linke Szene-Politik gelernt habe, weiß ich von ihr“, sagt er.

„Für mich war klar“, sagt Schanz, „wenn ich in die Pflege gehe dann nur, wenn ich mich um meine Leute kümmern kann.“ Viele Patienten der Solidarischen Hilfe kannte er lange, bevor sie von dem Pflegedienst betreut wurden. „Sie kommen teilweise aus der gleichen Stadtteilgruppe der DKP wie meine Eltern.“ Es sei so, als ob man in der eigenen Familie pflegen würde.

Viermal in der Woche, ein bis zweimal täglich, fährt Jony Schanz bei Karl H. vorbei. Er kommt auch heute gegen 14 Uhr, um seinem Patienten das Mittagessen zu bringen. „Na, möchtest Du nicht aufstehen?“, fragt er. So richtig Lust hat Karl H. dazu nicht. Jony bleibt hartnäckig und hilft ihm, sich aufzusetzen und eine Strickjacke überzuziehen. Mit der Unterstützung seines Pflegers setzt sich Karl H. an den Tisch neben seinem Krankenbett.

„Ich mach' jetzt erstmal einen Tee“, entscheidet Schanz, „du trinkst nämlich viel zu wenig.“ Doch auch die dampfende Tasse Tee bringt Karl H. nicht dazu, seinem Körper Flüssigkeit zuzuführen. „Mensch, jetzt trink mal was, sonst verdurstest Du noch auf Deine alten Tage“. Schanz setzt sich mit einer zweiten Tasse und dem aufgewärmten Mittagessen neben ihn. „Meine Patienten sind für mich ein lebendiges Tor zu Vergangenheit“, sagt er. In engen Zimmern holen Karl H. die Erinnerungen an seine Zelle in Fuhlsbüttel immer wieder ein.

Deswegen sei es für die Arbeit wichtig, sich mit der Geschichte auszukennen. Wenn das Stichwort Fuhlsbüttel fällt, kann Schanz einschätzen, wie er damit umgehen muss. „Ich bin auch schon ein paar Stunden länger dageblieben, weil Karl total fertig war.“ Das Schönste sei, „wenn die Leute besser drauf sind, nachdem du da warst“.

Schanz macht den Kassettenrecorder an. Von seinem Esstisch kann Karl H. die vom Regen nassen Birken sehen. Aber sein Blick ist nach innen gerichtet. Der Kassettenrecorder spielt eine vertonte Version eines Gedichts von Erich Kästner: Kennst Du das Land wo die Kanonen blühen? Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. Was man auch baut – es werden stets Kasernen. Kennst du das Land wo die Kanonen blühn? Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen.

Karl H. nickt und wiederholt leise „du wirst es kennenlernen“. Schanz überlässt ihn seinen Gedanken.

„Das Besondere bei der Solidarischen Hilfe ist, dass es mit allen Patienten eine freundschaftliche Ebene gibt“, glaubt Schanz. Das liege daran, dass die Interessen sich de-cken. „Als ich in ,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny' war, hat es einen Abend gedauert, Karl alles genau zu berichten.“

Nach dem Essen bringt er Karl H. auf die Toilette. Der enge Raum ruft Erinnerungen an die Zelle wach. „Ich sitze jetzt nicht in Fuhlsbüttel, oder?“, fragt er.

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