: Grenzen des Erlaubten
Nouvelle Vague revisited: Das 3001 zeigt Jean-Luc Godards Debütfilm Außer Atem in einer frischen Kopie und in einer neu untertitelten Version ■ Von Urs Richter
Alles, was man für einen Film braucht, ist eine Knarre und ein Mädchen. (JLG)
Es ist die wunderbare Trotzigkeit, die Jean-Luc Godard Debüt Außer Atem zum Ausgangs- und zugleich Höhepunkt der Nouvelle Vague macht: die Trotzigkeit der Figuren und die der Inszenierung. Dazu, dass der Film als Legende gilt, tragen die Umstände seiner Entstehung ebenso sehr bei wie all seine coolen Ges-ten und schnippischen Dialoge. Dokumente der Drehsituationen enthüllen die gleiche Frechheit wie die eigentlichen Szenen.
Der junge Filmkritiker Godard eiert mit dem Kriegsphotographen Coutard in einer Schubkarre über die Champs-Élysées, um mittels einer unüblichen Handkamera den unbekannten französischen Comédien Jean-Paul Belmondo und das amerikanische Ex-Model Jean Seberg zu filmen. Die Story: Ein Autodieb wird beiläufig zum Polizistenmörder und will mit seiner ehemaligen Liebschaft, einer amerikanischen Studentin, nach Italien fliehen. Sie möchte aber nicht.
Außer Atem ist Godards unpolitischstes Werk und sein einziges kommerziell erfolgreiches. 1959 ist die Revolution noch eine Frage des Stils, nicht der Ideologie. Und guter Stil will gelernt sein. Godard zitiert unbekümmert all jene Hollywoodroutiniers, die er als Kritiker in den Cahiers de Cinéma bauchpinselt. Ray, Preminger, Hawks, Wilder. Doch hier lässt seine Verehrung die Verehrten ziemlich unsexy aussehen. Berühmt die Szene, in der Belmondo, die Kippe im Mund, vor dem Bogartplakat steht, mit dem Daumen die Unterlippe entlangfährt und dem Idol Rauch ins Gesicht bläst.
Außer Atem bietet beides: den Film und den Filmfilm, den Beat und die Klassik, kurze Röckchen und lange Tradition. Modemagazine rufen den „Belmondisme“ aus. Vielleicht war auch das Anlass für Godard, sich in den 60ern zunehmend einer maoistischen Rhetorik zu bedienen, die uns wieder und wieder den Zusammenhang von Bildproduktion und Bildverwertung zu hinterfragen auffordert. Der aufklärerische Impuls von Außer Atem äußert sich dagegen eher in halbstarken Posen, die Papas Kino und Mamas Moral elegant beiseite schieben.
Wohlgemerkt, elf Jahre später endet Jean Sebergs Politisierung in einer Tragödie. 1970 startet das FBI unter J. Edgar Hoover eine Dreckschleuderkampagne gegen Black Panther-Sympathisanten. Ihr wird eine ehebrüchlerische Schwangerschaft von einem Black Panther Party-Aktivisten angedichtet und in der konservativen Presse lanciert. Seberg erleidet eine Fehlgeburt. Auf einer dramatischen Pressekonferenz konfrontiert sie die Journaille mit dem Tod ihres Kindes. Es war weiß. 1979 hat sie sich in Paris nach jahrelangen Depressionen das Leben genommen.
Außer Atem nimmt sich gegen solche Härten des Lebens alle Leichtfüßigkeit der Kunst heraus, am schönsten wohl zum Schluss: Tragik, die grinsen muss, Zynismus, der provisorisch bleibt und voll Witz. Seberg hat Belmondo an die Polizei verraten, die schießt ihn über den Haufen. Er liegt auf der Straße, im Sterben, und schimpft: „C'est vraiment dégueulasse.“ Die deutsche Fassung übersetzt mit „Du bist wirklich zum Kotzen.“ „Qu'est-ce que c'est, dégueulasse?“ kommt die Rückfrage unschuldig über ihre hübschen Lippen. Der ent-zückendste Tod der Filmgeschichte wäre gar nicht zu Stande gekommen, hätte Godard sich an die Drehbuchvorlage von Truffaut gehalten. Dort kann Michel gerade noch entkommen, aber seine Empörung versteht Patricia ebenfalls nicht, ihr Französisch ist zu löchrig.
So löchrig, wie Godards ruppige Schnittfolgen, die berühmten Jump-Cuts. Heute sind wir deren Ellipsen und Achsensprünge mehr als gewohnt, ihre Ökonomie gehört zum Repertoire beinahe jedes Werbeclips. Seinerzeit haben sie die Grenzen des Erlaubten komplett umdefiniert. Ganze Theorieschulen kreuzen die Degen ob ihrer Interpretation. Was bricht hier sämtliche Regeln: geniales Dilettieren oder ästhetisches Konzept? Spiegeln die Sprünge in Raum und Zeit die Fragmentierung des modernen Bewusstseins oder wollte Godard kunstbeflissen den Kubismus in Bewegung setzen?
Der Meister selbst nimmt's deutlich entspannter und antwortet im Gespräch mit Andrew Sarris, er habe lediglich den ersten Rohschnitt um eine Stunde kürzen müssen, einen längeren Film wollte der Produzent nicht verantworten. Also wurde die Stoppuhr gezückt, hier drei Sekunden weg, drei da, drei dort, zackzack – übrig blieb, was am besten gefiel. Einer anderen Legende zufolge hat Godard irgendwann mit dem Münze Werfen begonnen. Bei Kopf wurde Seberg, bei Zahl Belmondo aus der Szene geschnitten.
Wie auch immer, verspätet zum 70. Geburtstag soll in den nächsten Monaten eine kleine Godard-Auslese in bundesdeutschen Programmkinos eintrudeln: neue Kopien eines ewig jungen Werkes.
täglich, 20.30 Uhr, 3001
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