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Im Freizeitpark mit Dampfbierhaus

Karibikflair, Lagunenbad, ein bisschen Wolfgangsee im „Weißen Rössl“: Urlaub in Deutschland. Willingen, das Sankt Moritz der kleinen Leute, ist vor allem das Paradies der Rentnerinnen. Alle haben ein Leben lang hart geschuftet für diese Ferien

Der Deutsche Sommer, Teil II: Stellen Sie sich vor, es gibt eine Kampagne, und niemand nimmt sie wahr: Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) hat 10 Millionen Mark in das „Jahr des Tourismus 2001“ gesteckt. Gegen den Ruf der Servicehölle trommelt sie fürs „Erlebnisland Deutschland“. Wir haben uns umgeschaut und erzählen in unserer Sommerserie, was man hierzulande so erlebt.

von HEIDE PLATEN

Was macht ein Wintersportort im Sommer? „Hochsaison hat er“, sagt Helmut Kesper, Leiter des Kur- und Touristik-Service von Willingen im Hochsauerland. Wohl wahr! Die Leute stehen in der Sommersonne Schlange an den Skipisten. „Auf die Gummimatte stellen!“ Der Ton ist harsch. Der dicke Kerl zerrt seine Kunden auf die Betonbahn, die schmale Bank des Sessellifts Hochheide knallt in die Kniekehlen, das schaukelnde Brett zieht die Passagiere aufwärts, hinweg über Kühe und Stacheldrahtzäune. Der Ratschlag, den Sicherheitsbügel herunterzuziehen, verhallt ungehört. Zu spät! Die Fahrgäste angeln nach oben, hangeln, schaukeln dicht vor dem freien Fall, ehe das Gestänge herunterkracht.

Die rund 300 Meter sind eine Geisterbahnfahrt über den zerfurchten Hang des Ettelsbergs aufwärts, über die Schrunden und Rillen der Abfahrtsbahnen, des Schlepplifts, der Loipen, der Schotterwege für die Mountainbiker, der Rodelbahnen, im Sommer gnädig bewachsen mit Blaubeerkraut. Der Transport kostet für zwei Personen acht Mark, Ausblick inklusive: Unten am Ortsrand von Willingen recken sich mächtig die drei Flügel des Sauerland Stern Hotels in die Landschaft, ein Riesenhotel mit 1.200 Betten, Sporteinrichtungen, Läden und Restaurants. Das Panorama ist gründlich verschandelt, kein Quadratmeter ist ungenutzt. Lagunenbad, Eissporthalle, Tierpark, Parkplätze, gegenüber die Sommerrodelbahn. Der Ort ist durchindustrialisiert bis auf den letzten Quadratmeter.

Willingen im nordwestlichsten Zipfel Hessens ist Grenzland zu Nordrhein-Westfalen, das kalte Upland im Kreis Waldeck-Frankenberg am Rande des Rothaargebirges. Es ist Luftkurtort und Kneippheilbad und weltweit berühmt für seinen Wintersport, vor allem aber wegen seiner Worldcup-Schanze am Mühlenkopf. Der Ort ist seit 1995 ein Mekka der Skispringer und -fans aus aller Welt. Alljährlich im Februar drängen sich die Zuschauer zu zehntausenden auf den Terrassen. Zur Winterhochsaison im Februar kamen in diesem Jahr über 50.000.

Willingen ist auch im Juni keinesfalls öde und leer, sondern ist gut ausgebucht, vom Riesenhotel bis zur kleinen Pension. Und die Gäste fühlen sich auch ohne Schnee sichtlich wohl, rutschen in der schlangenförmigen metallenen Halbwanne, die Sommerrodelbahn genannt wird, zu Tal, steigen auf den über 300 Kilometer langen Rund- und Wanderwegen auf das eine oder andere der umliegenden, insgesamt sieben 800-Meter-Gipfelchen und nutzen vor allem das Rund-um-die-Uhr-Freizeitangebot. Das beginnt schon morgens in den Hotels mit Badebecken, Whirlpools, und Saunen. Man fährt mit dem Erlebnis-Express zu Edertalsperre und Diemelsee, bucht Kaffeefahrten und Fitnessprogramme. Die Gemeinde lässt sich all das etwas kosten: Theater, Märkte und Feste am laufenden Band, Open Air im großen Stil und Konzerte jeden Tag.

Und alle schwelgen überall im Ambiente von Plüsch und Pleureusen, von Gelsenkirchener Barock, frühstücken unter der Üppigkeit falscher Rosengirlanden, in überbordendem Dekor: Tonhäschen, -gänschen, -hühnchen, Korbwaren, Strohpuppen, Nippesimport aus der Dritten Welt und Schlagerparade der 60er-Jahre. Kaum ein anderer Ort in der Bundesrepublik, der sich so bedingungslos auf sein Publikum eingelassen hat.

Urlaub in Deutschland, hier im Sankt Moritz der kleinen Leute. Willingen ist das Paradies der Rentner, mehr noch der Rentnerinnen vor allem aus Nordrhein-Westfalen, den Städten des Ruhrgebiets, aus Niedersachsen, Holland und Belgien. Vielen Gästen ist anzusehen, dass sie ihr Leben lang hart geschuftet haben für diese Ferien. Sie genießen das, was sie für Luxus halten, in vollen Zügen. Und sie kommen immer wieder, all die Kegelclubs, die Sportvereine, die Gruppenreisenden, auch die jungen Familien. Willingen, das ist eigentlich kein Ferienort, sondern ein erweiterter Freizeitpark mit Rundumangeboten, Happy Hour im Dampfbierhaus.

Das allerdings ist nicht so recht das Publikum für die kleinen Naturschutzgebiete rund um den Ort, auf die Touristikchef Kesper besonders stolz ist. Er will auch dieses Marktsegment im Angebot. Die Hochheiden zum Beispiel, eine seltene Kulturlandschaft auf den Bergkuppen, früher bäuerlich genutzt, heute durch Pflegemaßnahmen erhalten. Auch das Forstamt gibt sich alle Mühe, das Interesse an der Natur zu wecken. Ein „Ökologischer Waldlehrpfad“ versucht es zuerst einmal ganz schlicht. „Tanne“ steht da auf einem Schild an einem großen Nadelbaum, „Eiche“ an einem anderen. Doch auch das „Haus der Natur“, ökologisches Informationszentrum, hat sein Publikum noch nicht so recht gefunden. Das steht neben der Brauerei zur Besichtigung an.

Dem Skiort machen, wie anderswo auch, die milden Winter mehr zu schaffen als verregnete Sommer. Die Willinger aber seien nicht nur, so Kesper, geschäftstüchtig, sondern auch umweltbewusst. Die modernen Schneekanonen werden mit „nichts als kalter Luft und Wasser ohne chemische Zusätze“ betrieben: „Über drei Grad minus geht nichts.“ Die 2.500 Kubikmeter Schneemassen pro Veranstaltung können schon Wochen vor den Skispringen auf Vorrat produziert werden. Die Große Mühlenkopfschanze ist aber auch im Sommer der Publikumsmagnet. Sie ist das Wahrzeichen des Orts. Die nicht mehr wettbewerbsfähige Holzkonstruktion ist im Jahr 2000 für 12 Millionen Mark ersetzt worden und nun eine der modernsten der Welt, die größte Mitteleuropas.

Zur Eröffnung im Februar glich sie einem Hexenkessel. Wild gewordene Teenager stürmten die Absperrung, um ihr Idol, den Skispringer Martin Schmitt, aus der Nähe sehen zu können. Rund 50.000 Menschen drängten sich auf den neuen Zuschauertribünen und rund um die Piste. Die Schanze ragt am Hang übermächtig in den Südosten, 80 Tonnen Stahl. Und wirkt auf ihren sich kreuzenden Stahlstelzen doch fast grazil. Eine Standseilbahn bringt das Publikum bis zum Fuß des holzverkleideten Anlaufturms. Von dort aus gleitet ein gläserner Fahrstuhl weiter hinauf zur Plattform in 770 Meter Höhe, 18 Meter höher als der Kölner Dom. Er ist auch im Sommer gegen Gebühr benutzbar. Vorausgesetzt, die Münzen reichen für die Fahrscheinautomaten. Die Gruppen, die da zur verglasten Turmkanzel hinauffahren, erfasst ein gelindes Schaudern ob der Tatsache, dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich im Winter auf schmalen Brettern in das Strycktal hinabstürzen.

Aber der Berg ruft auch sonst im Sommersonnenschein, sei es auf die Mattenbahn oder eben an die Wand in der Halle mit Klettergarten outdoor oder indoor und zum „Bier mit Berghüttenatmosphäre“. Im Juni kommen alljährlich drei Tage lang Mountainbiker zum Deutschland-Treff, der dieses Jahr 25.000 Besucher und Radler anzog und deren Spuren die Waldwege furchen.

Willingen, in der Kerngemeinde heute 3.706 Einwohner, 6.921 Gästebetten, verkraftet die 1,3 Millionen Übernachtungen im Jahr gut. Niemand klagt. Helmut Kesper sagt es knapp: „Alle verdienen daran.“ Dem Ort geht es gut, der Haushalt ist ausgeglichen. Die Willinger seien „allem Neuen aufgeschlossene, weltoffene Menschen“. Das liege, vermutet er, an dem Broterwerb der Vorfahren. Die zogen in den vergangenen Jahrhunderten mit ihren Kiepen auf dem Rücken aus dem bitterarmen Ort weit über Land. Sie handelten mit ihren Produkten: Kleineisenwaren, hölzernen Fassspunden und Leinen. Die „Linnenkerle“ wurden sie genannt. Und die kamen weit herum. Erst der Schieferbergbau verhalf dem Ort wenigtens die letzten hundert Jahre lang zu bescheidenem Wohlstand. Am Beginn des 20. Jahrhunderts kam dann der Wintersport dazu.

Irgendwann hat der Ort sein Gesicht verloren. Folklore und Brauchtum spielen keine Rolle, die Heimat ist getilgt und nur noch Reminiszenz, konserviert auf alten Fotos in Hotelhallen. Das sei, sagt Kesper, schon seit einem großen Brand 1847 so gewesen. Danach habe jeder „gebaut, wie er will“. Das Fachwerk verschwand zuerst hinter dem Schiefer und ging dann eine Melange ein mit Anbauten, Glasbausteinen, Eternit und Kachelklinkern. Die Willinger haben auch dem Kirchlein in der Ortsmitte dem Rest gegeben. Das Wirtshaus heißt jetzt „Don Camillo“, an der Treppe zur ehemaligen Kanzel weist ein Pfeil den neuen Weg: „Zum Donnerbalken“.

Das globale Tourismusdorf ist weder global noch Dorf. Es nivelliert. In Willingen kann sich jeder zu Hause fühlen. Karibikflair und finnisches Schwitzen im Lagunenbad, Waterkant im Gasthaus „Zum Schiff“, ein bisschen Wolfgangsee im „Weißen Rössl“, Alphornmesse auf dem Ettelsberg, für den American-Football-Fan heißen die Hackfleischbrötchen „Atlanta Falcons“. „Habermegger“, die heimische Mettwurst, ist eine Seltenheit, und auf keiner Karte ist das heimische Armeleuteessen „Sültemaus mit Beinerken“ zu finden, an das sich Kesper noch erinnert: Sauerkraut mit weißen Bohnen. Und dann oben in Siggis karger Berghütte eine Versöhnung: wunderbare Topfsülze, eine Portion, groß genug für zwei und noch ausreichend als Proviant für die Wanderung in die stillen Seitentäler.

Und abends im Hotel der Beweis, dass die Nachfahren der Linnenkerle von Dienstleistung viel verstehen: Hervorragend das Essen und Bedienung und Service so unaufdringlich freundlich und aufmerksam wie kaum sonst irgendwo. Und die Luft in Willingen, die ist wirklich und wahrhaftig ganz besonders gut.

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