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Niederliegende Sumpfkresse

Nirgends sonst in Berlin schreitet man durch solch hüfthoch gewachsenes Gras. Schmetterlinge fliegen von Blüte zu Blüte. Nirgens ist so viel Stille: Annäherungen an einen Berliner Park (2)

von ANDREAS HERGETH

Es kribbelt schon wieder an den Füßen. Ein paar kleine Ameisen haben mich blitzschnell erobert. Schnell sind sie abgeschüttelt, die Decke um zwei Meter nach rechts verlegt. Doch es nützt nichts. Jetzt sitzt mir eine große Waldameise im Nacken. Mutter Natur kann anstrengend sein.

Früher ging ich zum Zeitung lesen gern in ein Café im Friedrichshainer Amüsierviertel südlich der Frankfurter Allee. Seit Monaten zieht es mich jetzt aberregelmäßig in den für mich schönsten Park Berlins, der fast vor meiner Haustür liegt. Da, wo sich nahe der Landsberger Allee/Ecke Oderbruchstraße die Bezirke Prenzlauer Berg, Lichtenberg und Weißensee treffen, erhebt sich der Volkspark Prenzlauer Berg. Erheben ist das richtige Wort. Auf 29 Hektar zieht sich ein Areal von Hängen, Tälern und Ebenen mit Bäumen, Sträuchern und Wiesenflächen. Drei Plateaus mit einer Höhe von 91, 90 und 69 Meter bieten einen kolossalen Weitblick. Der Aufstieg ist schweißtreibend. Die erste Hälfte ist noch mit dem Rad zu bewältigen, doch dann wird es zu steil dafür. Doch die Mühe lohnt - zur Hälfte. Denn während man links nur Grün und den Himmel sehen kann, ist der Ausblick rechter Hand von Hochhäusern bestimm. Hier reicht der Blick bis nach Hohenschönhausen.

Als der Park angelegt wurde, gab es diesen Stadtteil noch gar nicht. Ab 1954 wurden hier Trümmerreste des Zweiten Weltkrieges vorwiegend vom Alexanderplatz und seinem Umfeld abgelagert, bis 1975 türmten sich insgesamt 15 Millionen Kubikmeter zu den heutigen Hügeln. Schon Ende der 50er Jahre entstand ein Erholungsgebiet mit ökologischer Orientierung. Mit Ende der Verkippung von Bauschutt überließ man der als Waldpark angelegten Anlage weitestgehend der Natur, Pflege- und Wartungsmaßnahmen halten sich bis heute in Grenzen. Nirgends sonst in Berlin kann man durch hüfthoch gewachsenes Grün schreiten. Schmetterlinge fliegen von Blüte zu Blüte, die in den verschiedensten Blau- und Lilatönen leuchten. Über 100 verschiedene Wildkräuter hat das Naturschutz- und Grünflächenamt gezählt. Darunter geschützte und gefährdete Arten wie die Nesselblättrige Glockenblume oder die Niederliegende Sumpfkresse. Hummeln futtern den Pollen der Goldnessel. Nur der Steppensalbei ist einfach nirgendwo zu entdecken.

Man selbst übrigens auch nicht. Auf dem Rücken oder Bauch liegend, verschwindet Mensch völlig im Gras. Das hohe, dichte Wiesengrün umrahmt wie ein lebender Bilderrahmen das Blickfeld gen Himmel. Kein einziges Hochhaus ist mehr zu sehen. Natur pur. Die Grillen übertönen fast die fern vorbei rumpelnde Straßenbahn. Am schönsten ist es unter der Woche im Volkspark, denn dann ist man oft ganz allein. Vor allem, wenn sich die Sonne mit ihren Strahlen geizig zeigt, dabei ist der Park selbst bei Regen wunderschön.

Bei Sonnenschein spazieren Viele, vor allem Ältere, durchs Gelände. Kinder pflücken Wildsträuße oder vergnügen sich auf dem Spielplatz. Dort liegen riesige Findlinge, Baumstämme und ein Holzschiff vor Anker. Der Park dient wie alle anderen in der Stadt natürlich auch der Körperertüchtigung. Radfahrer und Läufer erklimmen zäh die steilen Hänge, umrunden die Hügel. Und Kinder sausen mit Vorliebe wagemutig den 91 Meter hohen Hang hinab. Ich habe das einmal probiert und vor lauter Schnelligkeit Schiss bekommen. „Musste ein paar Mal machen, dann hast du keine Angst mehr“, riet ein Zwölfjähriger, der gerade seinen Drachen einpackte. Hier fliegen oft welche durch die Luft.

Über dem „Amphibienschutzgebiet“ feiern neonblau und neongrün schimmernde, etwa zehn Zentimeter große Libellen Hochzeit. Im Wasser schwimmen Kaulquappen. Hier gibt es Heimatkundeunterricht gratis. Und Stille. Die nur manchmal unterbrochen wird. Dann spielt jemand Didgeridoo oder Trommel. Meist sitzen die Leute dabei zwischen drei archaisch anmutenden hölzernen Stelen. Von der Oderbruchstraße sind durch ein riesiges steinernes Tor hindurch Treppen zu erklimmen, die zu einer Vielzahl kleiner Steinstelen führen, die im Halbkreis stehen - Mini-Stonehenge in Berlin. Hier und da sind Kunstwerke zu entdecken, Skulpturen aus DDR-Zeit, allesamt naturalistisch und bronzefarben. Vater mit Junge, rodelnde Kinder, Fuchs und Bär. Und ein Relief von Birgit Horota mit bäuerliche Szenen, Windmühlenflügeln, Novemberrevolution, russischen Soldaten. Dazu ein Schriftzug: „Im Jahre 1875 standen im Gebiet des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg noch Windmühlen.“

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