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Von irritierender Schönheit

Wieso hat es eigentlich so lange gedauert, bis einer auf die Idee kam, diese aufregenden Berichte über den Nürnberger Prozess zu veröffentlichen? Egal, jetzt sind sie da und jeder sollte sie lesen

von RENÉE ZUCKER

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist fantastisch und darf in keinem anständigen deutschen Haushalt fehlen.

Es ist eine der aufregendsten, traurigsten, spannendsten und beglückendsten Textsammlungen des 20. Jahrhunderts. Sie bietet lakonische, bittere, leidenschaftliche, pathetische, beleidigte, melancholische, racheerfüllte Artikel, Aufsätze, Meldungen, Reportagen, die von Journalisten, Schriftstellern, Militärangehörigen, Politikern geschrieben – und wundervoll zusammengestellt wurden von Steffen Radlmaier.

„Der Nürnberger Lernprozess“ nannte er seine Auswahl in Anlehnung an Alfred Döblins Schrift „Der Nürnberger Lehrprozess“, die jener als kulturpolitischer Mitarbeiter der französischen Militärregierung unter dem Pseudonym Hans Fiedeler geschrieben hat.

Und tatsächlich lernt man auch bei diesem Lernprozess auf jeder Seite etwas dazu. Unter anderem, dass es wohl eines solch scheußlichen Anlasses bedarf, um derart hochkarätige Autoren und Texte zusammenzukriegen.

Der Nürnberger Prozess begann am 20. November 1945, die Urteile wurden am 1. Oktober 1946 verkündet. Angeklagt waren 24 hochrangige Nazis, unter ihnen Göring, Hess, Dönitz, Streicher, Schirach, Speer und Schacht. „Es sind übrigens nicht mehr 24 Angeklagte. Ley hat sich umgebracht, Krupp heißt es, liegt im Sterben, Kaltenbrunner hat Gehirnblutungen. Und Martin Bormann? Ist er auf dem Weg von Berlin nach Flensburg umgekommen? Oder hat er sich irgendwo im deutschen Tannenwald einen Bart wachsen lassen und denkt, während er die Zeitungen liest: ‚Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn‘?“ – so beschrieb Erich Kästner die Ausgangslage in seinen „Streiflichtern aus Nürnberg“ für die Neue Zeitung.

Es war das erste Mal, dass ein multinationales Gericht, bestehend aus den vier Alliierten, einen Prozess gegen Kriegsverbrecher durchführte – und Nürnberg darf heute als Vorbild für den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gelten, aber ebenso auch für die Prozesse gegen die Kriegsverbrechen in Ruanda und ehemaligen Jugoslawien. Der Verdienst Nürnbergs, bei aller Kritik, die immer wieder an den Prozessen geübt wurde, so wird Jan Philipp Reemtsma zitiert, sei, dass damit ein Kriterium geschaffen wurde: Nicht jedes Verbrechen kann mit dem Hinweis, es sei Politik, entschuldigt werden – die Nürnberger Prozesse müsse man, so Reemtsma, eine „zivilisatorische Intervention“ nennen.

Der Einband des Buches ist von irritierender Schönheit. Auf den ersten Blick ein romantisches Bild, fast wie vom todessehnsüchtigen Böcklin gemalt – eine sanft türkisstichige Ruinenlandschaft unter einem wolkendurchzogenen Himmel an einem Fluss. Darunter im scharfen Schwarzweiß: der tote Hermann Göring. Auf der Rückseite wirken die Ruinen Nürnbergs plötzlich nicht mehr so romantisch und werden überlagert von Fotos der Toten Goebbels, Himmler und der Überreste Adolf Hitlers.

Der verblüffende erste Satz des einzigen chinesischen Reporters, des Schriftstellers Xiao Qian, lautet: „Nürnberg erinnert mich als einzige von allen europäischen Städten an Peking.“ Tatsächlich behandeln viele der Texte die Stadt Nürnberg, die von den Alliierten eben wegen ihres Symbolcharakters als Nazihochburg und Reichsparteitagsstätte ausgewählt worden war – als phänotypischer Mikrokosmos für Deutschland. Elsa Triolet, die russische Dichterin, beschrieb ihre Eindrücke für Les Lettres Francaise: „Eine Stadt wie ein zermatschtes Gehirn, rosa und grau in stark erhitzter Butter, mit den gewundenen Furchen der Straßen, in denen sich das Mittelalter hinter dreieckigen Fassaden, steil abfallenden Dächern und in den Fratzen der Statuen auf einer noch aufrechten Kirchenmauer blicken lässt.“

Immer wieder taucht die zerstörte Altstadt, das relativ intakt gebliebene Dürer-Denkmal auf. Immer wieder wird das Desinteresse der deutschen Bevölkerung beschrieben, gleichzeitig aber auch ihr Elend in den Kellern und zwischen den Ruinen – abgestoßen, befriedigt, mitfühlend, wie von dem polnischen Korrespondenten Karol Malcuzynski: „Das Hitler-Regime hinterließ keine Helden oder Märtyrer. Keiner ging in den Untergrund, um gegen die Besatzer zu kämpfen. Der ganze hitlerdeutsche Fanatismus verschwand von einem Tag auf den anderen, und es genügte ein weißer Polizeistock, um Ordnung zu halten. Sie waren fanatisch, als sie mächtig waren. Sie waren mutig, als sie siegten. Sie waren grausam und rücksichtslos gegenüber den Besiegten. Gegenüber den Siegern waren sie artig, reumütig, manchmal unterwürfig.“

Auf der anderen Seite gab es ebenso die Absurditäten, wie den ironischen Bericht Boris Polewojs über den Weihnachtsbaum, den eine Expedition der amerikanischen Ersten Division mit Sattelschleppern aus den Alpen hergeschafft, in den zweiten Stock des Faber-Castell-Schlosses gehievt und mit Schnapsfläschchen, Dörrobst, Schreibgeräten und Fotoapparaten geschmückt hatte. Markus Wolf schwärmt von feuchtfröhlichen, geselligen Abenden mit reizenden Dolmetscherinnen im Pressecamp, während William L. Shirer erzürnt darüber ist, wie verrottet die Army sei und wie schlecht sie die Korrespondenten behandelt!

Und wer war nicht alles dabei: Janet Flanner, Martha Gellhorn, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Alfred Döblin, Erika Mann, Willy Brandt, Susanne von Paczensky, Gregor von Rezzori und viele uns unbekannte russische, ukrainische und polnische Schriftsteller und Journalisten. Ihre Texte sind naturlich von unterschiedlicher literarischer Qualität – so möchte man nicht unbedingt ein ganzes Buch von Willy Brandt lesen müssen, aber dafür immer wieder den kühlen, doch niemals teilnahmslosen John Dos Passos, die wunderbaren Briefe aus Nürnberg von Janet Flanner oder Martha Gellhorns erregend zornige Reportage. „Keitel war ein Nichts, eine Granitbüste, schlecht gemacht aus minderwertigem Stein.“

Interessant und hoch spannend sind sie alle. Sogar die Einwände des konservativen Hans Habe, der immer wieder darauf hinwies, dass dieser Prozess von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, weil man die verschiedenen Angeklagten nicht auf eine Bank setzen dürfe; weil man sie eher zusammenschweiße als voneinander isoliere, und schließlich, weil für jeden Beobachter ein Eindruck von Einseitigkeit entstehe, so wie der Prozess geführt werde.

Sehr modern scheinen einem die Beobachtungen der Argentinierin Victoria Ocampo, die das Ganze wie ein Kulturereignis, ein Theaterstück oder eine Oper betrachtet und plötzlich feststellt, dass sich die Angelegenheit ja nur unter Männern abspielt – sie vergleicht es mit dem Truppentransportflugzeug, mit dem sie herkam: „Dieses Tribunal, jenes Flugzeug, sahen keine Frauen an Bord vor. Beide wurden gebaut und eingerichtet mit der Absicht, ohne sie auszukommen.“

Je weiter der Prozess vorangeht, desto größer das Interesse und die Faszination über die verschiedenen Reaktionen der Angeklagten. Ein ums andere Mal werden die schauspielerische Leistung Hermann Görings, seine perfide Intelligenz, seine Eitelkeit beschrieben. Gleichzeitig sind die Beobachter aber auch fast enttäuscht: „Auf der Anklagebank sitzen zwanzig heruntergekommene Wracks, die nichts bedeuten und niemandem Angst machen“, so der Thomas-Mann-Biograf Peter de Mendelssohn.

Irgendwann fragt man sich erstaunt zwischendrin, wieso es eigentlich so lange gedauert hat, bis einer auf die ebenso geniale wie einfache Idee gekommen ist, diese Berichte über den Nürnberger Prozess zu publizieren. Immerhin gab es ja alle Texte die ganze Zeit. Aber das ist jetzt egal, nun ist das Buch da und ich kann nicht aufhören zu wiederholen, dass man es unbedingt lesen sollte. Sofort!!!

Steffen Radlmaier (Hg.): „Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern“, 372 S., Eichborn, Frankfurt a. M. 2001, 54 DM (27,50 €)

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