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Gnadenbrot für alten Hund

David Seaman (37) hütet trotz nachlassender Reaktionsfähigkeit weiterhin das Tor der englischen Nationalmannschaft, was ein im britischen Fußball bisher unbekanntes Torwartproblem offenbart

aus Bisham Abbey RONALD RENG

Mister Seamo, oft ein gefeierter Sieger in Wembley, hat seine Karriere beendet. Und während man vom Abschied des alten Recken hört, springen die Gedanken unvermeidlich vom Rennhund zu seinem Besitzer: von Mister Seamo zu David Seaman. Wie Seamo, der immer Montagabend bei den traditionellen Windhundrennen im berühmten Fußballstadion an den Start ging, war auch Seaman oft ein Held in Wembley. Wie sein Hund hat auch der englische Nationaltorwart – es tut weh, es aufzuschreiben – seine größte Zeit gehabt.

Es tut schon deshalb weh, weil Torhüter es eigentlich verdienten, besonders wohlwollend beurteilt zu werden. Es hacken doch sowieso schon viel zu viele auf ihnen herum: Stürmer gewinnen Spiele, Torhüter verlieren sie. „Die meisten von uns bleiben nur für ihre Fehler in Erinnerung“, sagt Seaman, der seit elf Jahren für Arsenal spielt. „Die Leute blicken auf große Torhüter wie Peter Shilton zurück und sagen nur: ,Weißt du noch, sein Fehler gegen Schottland?‘ Es ist falsch.“ Doch bei aller Sympathie; nach 65 Länderspielen ist es nun auch bei ihm so weit: Als Englands Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson am Dienstag im Trainingslager in Bisham Abbey sagte: „Ich glaube, Seaman ist noch so gut wie vor fünf oder sogar zehn Jahren“, fiel einem als erstes Didi Hamanns Freistoß aus 35 Metern ein, den der langsam zu Boden plumpsende Seaman im vergangenen Oktober in Wembley beim 0:1 gegen Deutschland durchließ, dann der Freistoß von Leeds Uniteds Ian Harte, dem Seaman im Ligaspiel vor zehn Tagen hilflos hinterher blickte, dann . . . lassen wir es. Es führt kein Weg daran vorbei, dass England in das entscheidende Weltmeisterschafts-Qualifikationsspiel am Samstag gegen Deutschland mit einem Torwart geht, der in 20 Tagen 38 wird und von keiner Jury mehr unter die Weltbesten gewählt würde.

Dass ein Torwart in seinem Alter ab und an die entscheidenden paar Hundertstel zu langsam reagiert, ist menschlich. Verblüffend ist, dass England keinen besseren findet. Doch von den 20 Erstligateams im Land haben zurzeit nur fünf eine englische Nummer eins. Der einzige Engländer, der im vergangenen Jahr Weltklasse hielt, ist ein Ersatztorwart: Der 21-jährige Paul Robinson, der in der Champions League gegen Lazio Rom und Barcelona eine Schau war, ist bei Leeds United nur als Aushilfe für den 35-jährigen Nigel Martyn gefragt. Martyn wiederum, der in der Premier League seit Jahren konstant den besten Eindruck macht, litt genauso konstant unter Lampenfieber, wenn er seine Chance im Nationalteam bekam. Erst vor zwei Wochen, beim 0:2 gegen die Niederlande, half er bei beiden Gegentoren mit.

„Mensch, dass die Engländer keinen gescheiten Keeper mehr haben“, ruft Bernd Trautmann, der als deutscher Torwart bei Manchester City in den Fünfzigerjahren zur Legende wurde. Heute ist er 77. „Wenn ich dran denke, zu meiner Zeit hatten sie mindestens zehn, die du überall hinstellen konntest.“ Welche zehn? „Burt Williams, Sam Burton, ähm, na, jetzt fällt mir doch glatt keiner mehr ein. Jetzt bin ich blockiert, weil ich mich wegen Seamans Schwäche so aufgeregt habe.“ Tatsächlich schien in England nie ein Mangel an begabten Schlussleuten zu herrschen. Gordon Banks in den Sechzigern, Ray Clemence in den Siebzigern und Peter Shilton in den Achtzigern waren herausragende Vertreter des wagemutigen, aber doch immer sachlichen Keepers, den die Engländer so lieben.

Die Neunziger gehörten Seaman. Doch mindestens schon seit vier Jahren wächst der Verdacht, dass seine Autorität im Strafraum schwindet. Oft zu halbherzig und zu oft gar nicht kommt er bei Flanken aus seinem Tor. „Das Gesetz der Natur besagt, dass deine Reaktionen mit dem Alter langsamer werden“, sagt Seaman. „Aber ich würde sagen: Was ist mit Erfahrung?! Dino Zoff wurde als 40-Jähriger noch Weltmeister mit Italien.“ Die WM in Japan und Südkorea ist sein letztes Ziel als Nationalspieler. Bis dahin sind es nur noch neun Monate, aber für einen 38-Jährigen ist das ein langer Weg, auf dem allerhand passieren kann; mal abgesehen davon, dass Englands Qualifikation im Moment fern von sicher ist.

In der Nationalelf testet Trainer Eriksson seit Monaten in allen Freundschaftsspielen andere Torhüter, was nahe legt, dass auch er Seaman nicht mehr bedenkenlos traut. Bei Arsenal hat Trainer Arsène Wenger bereits Seamans Nachfolger verpflichtet, Richard Wright kam für 18 Millionen Mark von Ipswich Town. Noch ist Wright Ersatz; aber zwei, drei Fehler von Seaman, und die Wachablösung kann sich schon in wenigen Wochen vollziehen. Helden gehen nicht immer glorreich. Mister Seamo musste aufhören, weil er auf einmal lahmte.

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