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Echo des Mittelalters

20 Jahre nach „Der Name der Rose“ steigt Umberto Eco wieder ins 12. Jahrhundert hinab – zu Barbarossa und der Suche nach dem irdischen Paradies

von CHRISTIAN SEMLER

Ebersbach, einst beschauliches Kloster im Rheingau, ist heute die Touristenattraktion der Region. Das ist das ausschließliche Verdienst Umberto Ecos. Für die Verfilmung seines Bildungskrimis „Der Name der Rose“ dienten Keller, Speise- und Schlafsaal des Klosters als Schauplatz. Eco hat die Mittelaltermanie in Deutschland zwar nicht erfunden, aber angefeuert: Mehr davon, mehr! Aber der in vielen Künsten geübte Linguist schleifte uns zwanzig Jahre lang durch andere Zeiten und Schauplätze – bis hin zur „Insel des vorigen Tages“ in der Südsee, wo wir uns durch die Schwierigkeiten fressen mussten, die der präzisen Festlegung der Längengrade im 17. Jahrhundert entgegenstanden.

Jetzt aber nimmt uns Eco erneut beim Händchen und führt uns zurück zu spirituellen wie handfesten Abenteuern, zu Fresslust und Askese, zu Kaiser und Papst, ins Zeitalter Friedrich Barbarossas, also in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. Wie gewohnt mobilisiert Eco eine Unmasse von Dokumenten und Schriften. Vom Geschichtswerk Ottos von Freising – ganz zeitgemäß im Internet abrufbar – bis zum Bericht des Historikers und Staatsmanns Niketas Choniates über die Verwüstung seiner Heimatstadt Konstantinopel durch die westlichen Barbaren anlässlich des fehlgeleiteten Kreuzzugs anno 1204.

Thema des neuen Buchs von Eco sind die Suche, von der man ahnt, dass sie nie ans Ziel gelangen wird, und das Verlangen, das nie gestillt werden wird. Gesucht wird: das Reich des Presbyters Johannes, das sich im zentralen Asien oder in Indien, vielleicht aber auch in Äthiopien befinden soll, irgendwo in der Nähe des irdischen Paradieses, das die christliche Geografie des Mittelalters im Osten, hinter dem Okeanos, angesiedelt hatte. Johannes ist ein christlicher Priesterkönig, der Perser wie Meder besiegt, ein großes Reich errichtet hat und jetzt bereit ist, der Christenheit bei der Wiedereroberung Jerusalems zur Hilfe zu eilen. Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Johannes hängt der nestorianischen Häresie an, nach der Christus nur Menschensohn ist, Aber, who is perfect?

Ob das Königreich des Presbyters je existiert hat und, wenn ja, wo, bildet bis ins 20. Jahrhundert den Gegenstand gelehrter Kontroversen. Otto von Freising glaubte auf alle Fälle an Johannes – und mit ihm viele seiner Zeitgenossen. Briefe von und an Johannes kursierten im griechischen Ostrom wie im westlichen „Heiligen Römischen Reich“. Eco hat diese Zeugnisse synthetisiert, sie um die eher „nordische“ Sage vom Heiligen Gral angereichert und einen Helden erdacht, der die gefahrvolle Expedition zum Retter der Christenheit unternimmt: Baudolino.

Wie Eco selbst ist Baudolino ein Bürger des oberitalienischen Alessandria, und er trägt den Namen des städtischen Schutzheiligen San Baudolino, der seinerseits eine fromme Erfindung der Alessandriner war. Die Romanfigur Baudolino, armer Dörfler Kind, begegnet im Wald einem rotbärtigen Ritter, der natürlich niemand anderes ist als der Kaiser. Er wird von ihm adoptiert und gerät so ins Zentrum von Krieg, Macht und Intrigen. Er liebt Friedrich, aber er liebt auch seine Heimat. Nicht das fette Mailand, das sich gegen den Kaiser auflehnt und von Rotbart bis auf die Grundmauern zerstört wird, sondern sein piemontesisches Tal, das Eco zu einer Art bäuerlich-demokratischem Gemeinwesen stilisiert. Schließlich gelingt es ihm, im Streit zwischen Friedrich und den lombardischen Städten zu vermitteln. Der Kaiser vertraut ihm, Baudolino erledigt die schwierigsten Geschäfte für ihn, begleitet Barbarossa auf dem Kreuzzug bis zum tödlichem Bad im kleinasiatischen Fluss Saleph. Schließlich bricht er im Auftrag des Kaisers zu Johannes auf.

So jedenfalls erzählt er es dem hohen byzantinischen Beamten und Geschichtsschreiber Niketas Choniates, nachdem er ihn aus den Händen fränkischer Marodeure errettet hat. Niketas, ein überaus intelligenter Skeptiker, der sich allerdings die wichtigste Tugend der Historiker, die Neugier, erhalten hat, weiß bald, wen er vor sich hat: einen notorischen Geschichtenerfinder, stets zur Stelle, stets Akteur, wenn die Weltgeschichte einen neuen Dreh erfährt – ein Chamäleon, das sich fantastisch jeder Sprache und Kultur anzupassen weiß und doch unwandelbar treu seinen Freunden, seiner Sehnsucht und seiner Aufgabe anhängt. Baudolino erfindet, aber seine Erfindungen sind oft genug wohltätig. Er liefert erdachte Fakten, die dann zur wirklichen Aktion mit gutem Ende führen. Er nährt die Hoffnung der Mitmenschen, belebt ihre Einbildungskraft. Eco/Bardolino machen uns klar, dass die Geschichte nichts ohne Geschichten wäre – und ohne Geschichtenerzähler. Und dass die Wahrheit nicht das Gegenteil der Lüge ist.

Freilich gerät Eco bei seinem Unternehmen selbst in den Sog der Weitschweifigkeit, wird Opfer seines detailwütigen Helden, vergisst die Zeitökonomie des Krimis, der dieses Buch auch ist. Und verfällt in den Fehler so vieler historischer Romane, die dem Leser eine falsche Intimität zu den großen Personen suggerieren. Darüber soll die Literaturkritik urteilen. Wir aber freuen uns, dass Baudolino nur in seiner kurzen, büßerischen Phase als Säulenheiliger eingesteht: „Das Bestreben, den Menschen gefällig zu sein, lässt jede geistige Blüte verdorren.“ Dann macht er sich wieder auf den Weg zum Priester Johannes. Um seinetwillen, aber auch, um uns einen Gefallen zu tun. Denn wir, die nüchternen Pragmatiker, dürsten nach mehr als der nackten Wahrheit.

Umberto Eco: „Baudolino“. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2001, 560 S., 49,80 DM (25,46 €)

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