: Sinneslust und Aufklärung – wie eine Affäre funktioniert
Journalistischer Eifer wurde im Fall Scharping befördert durch die köstliche Selbstdarstellung eines Ministers, der die Regeln der symbolischen Politik so gar nicht beherrscht
BERLIN ■ taz Erst schien der Rücktritt Scharpings nur noch eine Frage von Stunden. Jetzt soll alles vorbei sein, die Treibjagd beendet, der vom Liebeswahn befallene Minister wieder geschäftsfähig, wir alle um die Erfüllung unseres gerechten Strafbedürfnisses gebracht? Es sieht ganz danach aus – wenigstens bis zu dem Abend des Jahres 2002, an dem Kanzler Schröder seiner zweiten Amtszeit entgegensehen darf.
Journalisten, selbst linke, neigen nicht gerade zur kritischen Reflexion über ihr Handwerk. Wie vieles andere teilen sie diese Haltung mit dem Gros der Politiker. Im Fall Scharping ging es um nichts als um Information, Aufklärung und die Befestigung öffentlicher Moral! Fern sei der Gedanke, das journalistische Gewissen habe deswegen so heftig geschlagen, weil hier eine Story winkte, in der die fatalen Wirkungen der Liebe auf Pflichterfüllung und staatsmännische Korrektheit sich so wunderbar verknoteten.
Die Freude angesichts der Verstrickungen eines Mächtigen wird noch potenziert, wenn der Delinquent vorher so gar nicht der Sinneslust anhing, wenn er stocksteif und mit stets durchgedrücktem Rückgrat seinen Amtsgeschäften nachging, mit einem Wort, wenn er sich so in der Öffentlichkeit präsentierte wie Rudolf Scharping. Dass Heinrich Manns Professor Unrat infolge seiner unstandesgemäßen Liaison so sehr dem Spott und der Verachtung anheim fiel, hat natürlich mit dem überkorrekten Bild zu tun, das er jahrzehntelang für seine Schüler wie seine Umwelt abgab.
Unsere Haltung zu PolitikerInnen wird von Ambivalenz bestimmt. Einerseits sollen sie so sein wie wir, das Volk der Versicherungsbetrüger, Schwarzfahrer, Steuerhinterzieher, Fahrerflüchtigen. Andererseits sollen sie Lichtgestalten sein, Männer und Frauen mit volkspädagogischem Auftrag, die uns zeigen, wo’s langgeht. Ein Restchen Charisma sollte bei ihnen schon noch durchscheinen, aber bitte nicht zu viel.
Scharpings Problem besteht in der richtigen Handhabung symbolischer Politikformen. Die Symbole wechseln mit der politischen Konstellation. Als Helmut Schmidt Verteidigungsminister war, ging es um Großstrategie und politisches Management. In diesen Disziplinen brillierte der spätere Kanzler. Kaum jemand, der unter der Doktrin der atomaren „Mutual assured destruction“ (mad) bei der Bundeswehr Dienst tat, glaubte damals daran, jemals das Feld der Ehre betreten zu müssen. Jetzt, unter der neuen Nato-Doktrin, häufen sich die humanitären Einsätze, mit den Beförderungschancen wächst auch das Risiko. Plötzlich steht der Soldat, unter der Herrschaft der atomaren Abschreckungsstrategie in Deutschland eigentlich eine vernachlässigungswerte Größe, wieder im Mittelpunkt. Man muss sich um ihn sorgen, seine Befürchtungen teilen, allzeit zu seiner Verfügung stehen. Gestern war es noch sympathiefördernd, sich mit der Lebensgefährtin publikumswirksam den Badefreuden in Mallorca hinzugeben. Heute symbolisieren Fotos dieses Inhalts egoistische Libertinage und Gleichgültigkeit gegenüber den schutzbefohlenen Soldaten. Das heißt aber noch lange nicht, dass die veränderten Ansprüche der Truppe und mit ihr des Publikums an den Verteidigungsminister nur im Reich der Gesten und Frontbesuche spielen. Wo es nicht um „Liebe und Flüge“ geht, sondern um harte Fakten, hat Scharping mehrfach bewiesen, dass ihm das Schicksal der Soldaten herzlich gleichgültig ist. Erinnern wir uns an die Statements, die der Verteidigungsminister in Sachen urangehärteter Munition nach dem Kosovo-Einsatz abgab. Damals war die Zahl der Journalisten dünn gesät, die das jetzt so beliebte Postulat der „Fürsorgepflicht“ des Verteidigungsministers in Anschlag brachten und den Rücktritt forderten. War auch ein ganz anderer Sachverhalt. CHRISTIAN SEMLER
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