: Fliegende Blätter
■ Vielschichtige Atmosphären durchziehen den Roman „Tintenpalast“ des Berliner Autors Olaf Müller. Lesung heute in der Stadtwaage
„Er hatte diesen Satz auf dem Pariser Flughafen schon einmal gelesen, einen Satz, den er abgeschrieben hatte.“ Der hier doppelt liest und auf Flugplätzen Sätze notiert, ist Henry Magdaleni, der in Texten vergangener Epochen der Held des Romans gewesen wäre. Bei Olaf Müller aber ist er nur einer, der Sätze notiert in ein Buch, das er stets bei sich trägt. Immer wieder kramt er dieses unübersichtliche Sudelbuch heraus, liest darin oder lässt den bereits niedergeschriebenen Notaten das eine oder andere folgen.
Und wie der vermeintliche Held hält auch der titelgebende Tintenpalast nicht das, was er verspricht, ist weniger prunkvoll, als der Begriff vermuten lässt. Denn er „hatte keinen Palast eingerichtet, ein Hundehaus höchstens, er war Knecht gelieben.“
Knecht, nicht Herr also ist dieser Henry Magdaleni. Nicht Herr geworden, niemals, über das eigene Leben. Dazu passend das Notizbuch, das unordentlich, unüberschaubar ist - wie, scheint's, das ganze Leben diesesMenschen. „Armer Henry“, denkt sich der Erzähler. Und in der Tat: Sein Ur-Eigenstes entpuppt sich – für Henry eine schmerzvolle Erfahrung – als Kopie, als Sammlung von Versatzstücken.
Was ist ein Leben, wie kann man davon erzählen, wie ihm, mit etwas Glück, vielleicht, etwas Sinn verleihen? Diese exis-tenziellen Fragen durchziehen den Roman des 1962 in Leipzig geborenen Olaf Müller. Geschickt blendet der Autor Perspektiven ineinander, verknüpft nützliche und nutzlose Informationen, schichtet Bewusstseinsebenen. Vieles kommt heraus (und das ist unterhaltsam und lesenswert), nur eines nicht: Das geschlossene Ganze, die schlüssige Biografie, nach der die beiden Protagonisten suchen - und wir mit ihnen, ganz im Sinne des Autors. Denn geschickt legt Müllers Erzählinstanz uns Gedanken wie diese in den Mund: Was war denn nun eigentlich wirklich? Und warum?
Doch halt. Dies klingt alles viel komplizierter, als es sich darstellt. Denn eigentlich ist Müllers Roman ganz einfach gebaut.
Schicksalhaftes a la „Twin Peaks“
In 15 Kapiteln wechseln sich die Perspektive von Henry Magdaleni und die der zweiten Hauptfigur, Simon Sanges, ab. Letzerer folgt, zeitversetzt, Ersterem. Von Berlin, wo sich beide in den 80ern kennen lernten, nach Namibia, „Deutsch-Südwest“ früher. Einem Bildband aus Kolonialzeiten hatte der Protagonist, als er zu schreiben begann, auch den hübschen Titel für seine Kladde entlehnt: Tintenpalast.
Simon Sanges nun fungiert als eine Art Nemesis-Figur. Schicksalhaft und unerbittlich. Er folgt den Spuren, die der aus deutschen Landen entschwundene Magdaleni – absichtlich? – hinterließ.
Magdaleni hatte kurz nach der sogenannten Wende die ostdeutsche Kleinstadt Blubars über Paris in Richtung Afrika verlassen. Sich damit wegbewegt von der Familie des „Luftpumpengottes“ Rotuma und seinen beiden äußerst promiskuitiv zu Werke gehenden Töchtern Beatrice und Ursula. „Plötzlich waren sie nicht mehr als Komparsinnen, die am Rande standen und für ein paar Sätze auf die Bühne gerufen wurden. Sich mit ihnen einzulassen war ein Schritt in die gewünschte Richtung. Sie vervollständigten die Inszenierung. Er war soweit, den Einsatz der Figuren berechnen zu können.“ Im „Tintenpalast“ schreibt Henry sein eigenes Leben als Roman. Es ist ein Versuch, die Macht über sich selbst zu behalten. Im radikalen Rückzug ins Innerliche. „Wo immer es ging: Berührungen vorbeugen.“
Doch hier, in der Wüste, wo „weit und breit kein Wasser in Sicht war, Trockenheit nur, an der Schwelle zur Vertrocknung Vegetierendes“, gibt es auch kein Entrinnen. In einer atmosphärisch ungemein dichten, an die populäre Version des Schicksalhaften à la „Twin Peaks“ erinnernden Erzählung, gelingt es Müller, Magdalenis Suche zum Scheitern zu führen. Zwangsläufig - denn er legt Spuren und verwischt sie, er sucht sich, und er versucht sich zugleich zu verlieren. Der Namib, die Wüste, die fast abgedroschen verbildlichte Einsamkeit wird zuletzt Schauplatz der alles entscheidenden Begegnung. Das Nichts aus Sand und Himmel - jener Ort, an dem sich alle Spannungen entladen.
Tim Schomacker
Olaf Müller liest heute um 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13, aus „Tintenpalast“
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