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Selbst ernannter Patron aller Muslime

Taliban-Führer Mullah Omar ist der Gastgeber von Ussama Bin Laden in Afghanistan. Er unterscheidet nicht zwischen weltlicher und spiritueller Autorität. Für ihn steht das „Volk der Rechtgläubigen“ über dem Nationalstaat

DEHLI taz ■ Wie kommt der Sohn eines armen landlosen Bauern in einem kleinen südafghanischen Dorf dazu, sich im Alter von 37 Jahren zum „Emir von Afghanistan“ ausrufen zu lassen? Und wie konnte sich dieser ungebildete Dorf-Mullah kurz darauf die in Kandahar aufbewahrte Reliquie des Mantels des Propheten umhängen und damit den Titel von „Amir-al Mominin“ beanspruchen? Als Mohammed Omar am 4. April 1996 von über tausend Religionslehrern zum „Anführer aller Gläubigen“ ausgerufen wurde, waren noch keine zwei Jahre verstrichen, seit er in einer Lehmhütte in einem abgelegenen staubigen Nest Südafghanistans seine Religionsschule geführt hatte. Und nun beanspruchte Mullah Omar nicht nur die Autorität über seine afghanischen Mitbürger, sondern über die Muslime der ganzen Welt.

Doch das Land heißt Afghanistan, in dem ein 20-jähriger Besatzungs- und Bürgerkrieg jede staatliche, religiöse oder militärische Autorität über den Haufen geworfen hatte. Und im Jahr 1996, in den paar Monaten vor der „Krönung“ in Kandahar, waren die Ereignisse eingetreten, die diesem Krieg eine radikal neue Richtung gaben – und in denen Omar eine entscheidende Rolle spielte. Am 5. November 1994 eroberten die von Pakistan bewaffneten Taliban-Schüler aus Madrassen in Pakistan und Süd-afghanistan die zweitgrößte Stadt und das historische Machtzentrum des Landes – Kandahar. Sie vertrieben die Kommandanten, die nach dem Rückzug der Sowjettruppen zu Straßenräubern und Erpressern geworden waren, statt sich auf den verdienten Mudschaheddin-Lorbeeren auszuruhen. Ein Monat später war der ganze Süden in der Hand der Islamschüler, drei Monate später kontrollierten sie bereits 12 der 31 Provinzen des Landes.

Omar war die treibende Kraft hinter diesem Feldzug junger Männer. Auch er hatte für kurze Zeit – in der „Hezbe-Islami“ von Yunus Khalis – gegen die sowjetischen Besatzer gekämpft. Doch nach dem Abzug der Russen und nach einer Kriegsverletzung, die ihn das rechte Auge gekostet hatte, zog der scheue und tief fromme Omar 1989 in das abgelegene Dorf Singesar und baute seine kleine Madrassa auf. Dort wurde er Zeuge der zunehmenden Rechtlosigkeit im Land. Die Mudschaheddin-Kommandanten wurden im neu aufflackernden Bürgerkrieg zu Banditen, entführten und vergewaltigten Frauen, töteten Kinder.

Zusammen mit dreißig Gleichgesinnten begann Mullah Omar in der Region von Kandahar mit der Waffe in der Hand eine strenge islamische Justiz durchzusetzen. Vermutlich trat damals auch der pakistanische Geheimdienst ISI mit ihm in Verbindung. Pakistan wollte aus wirtschaftlichen Gründen die Straßen nach Zentralasien öffnen und benötigte gegen die Mudschaheddin-Kommandanten mit ihren willkürlich errichteten Straßensperren und Brückenzöllen eine lokale Unterstützung.

Bereits einen Monat nach der Eroberung von Kandahar wurde Omar von seinen Getreuen zum Führer gewählt. Strategische oder rhetorische Brillanz waren nicht dafür verantwortlich. Omar redet leise, und er ist extrem scheu. Dies erklärt die Tatsache, dass es praktisch keine Fotografie von ihm gibt und dass es Jahre dauerte, bis der erste ausländische Besucher ihn zu Gesicht bekam. Er verlässt sein Haus in Kandahar nur selten, und die Stadt praktisch nie – Kabul besuchte er erst zweimal.

Doch die strenge Frömmigkeit, die für seine Ernennung zum Taliban-Anführer verantwortlich war, ist mehr als ein stiller Dialog mit Gott. Omar vertritt eine Religion, die stark von tribalen Elementen des „Paschtunwali“, des Ehrenkodex der Paschtunen, durchsetzt ist. Es ist ein radikaler Islam, der nichts anzufangen weiß mit der traditionellen und hoch differenzierten Kulturreligion des städtischen Klerus und der nur in Kategorien von Rechtgläubigkeit und Unglaube denkt, von Allah und von Götzenbildern.

Es war ein politischer Akt, als sich Omar 1996 den Mantel des Propheten umhängte. Seine Botschaft lautete, dass weltliche und spirituelle Autorität nicht zu unterscheiden sind, weil beide gottgegeben sind. Deshalb haben die Taliban auch im sechsten Jahr ihrer Herrschaft noch kaum staatliche Strukturen etabliert. Die Regierung in Kabul ist vollständig abhängig vom Emir in Kandahar und dessen „Rat der 24“. Die Symbole der Staatlichkeit sind zwar nützlich, wenn es um die Durchsetzung von territorialen Ansprüchen geht, etwa gegen die Gegner der „Nord-Allianz“. Doch letztlich steht über dem Nationalstaat die „Umma“, das Volk aller Rechtgläubigen. Und wenn dessen Existenz auf dem Spiel steht – etwa wegen der Bedrohung aus dem materialistischen Westen –, dann fallen moderne Prinzipien wie Nichteinmischung und Souveränität weg. Dann kann Mullah Omar, der „Beschützer aller Gläubigen“, einen Ussama Bin Laden rufen, ihn zum Staatsgast erklären und ihm Afghanistan als Operationsbasis zur Verfügung stellen.

BERNARD IMHASLY

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