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: HELMUT HÖGE über die neue Nachdenklichkeit

Bündnistreue und so weiter

Im oberhessischen Wächtersbach waren die Auswirkungen der französischen Juli-Revolution (1830) derart, dass der Tagelöhner Karl Möller den Veterinär Dr. Solms mit einem rostigen Degen bedrohte, damit der seine kranke Ziege kostenlos behandle. Sonst gab es keinerlei Vorkommnisse. In meinem Prenzlauer-Berg-Stammcafé Moyra fand jetzt – kurz nach dem Attentat auf das New Yorker World Trade Center – ein Einjahresjubiläum statt: Die schöne Wirtin hatte alle ihre Liebhaber eingeladen, sie saßen an einer langen Tafel. Weil die nicht reichte, musste einer am Katzentisch sitzen. Er betrank sich und fing schließlich an, laut rumzupöbeln: „Die Amis sind doch schon lange am Ende – und jetzt erst recht . . . Man darf doch wohl noch seine Meinung sagen!“ Der schönen Wirtin gelang es schließlich, ihn zu beruhigen.

Meine Lieblings-World-Trade-Center-Geschichte kommt aber aus Bremen. Dort wurde unter Koschnick ebenfalls ein (kleines) World Trade Center gebaut – mit dem man „die Japaner“ einfangen wollte. Sie blieben jedoch nur so lange (drei Monate), wie das WTC mietfrei war. Seitdem steht es nahezu leer. Nach dem New Yorker Attentat hatte der Sender Radio Bremen den tollen Einfall, sofort einen Ü-Wagen hinzuschicken. Und der berichtete dann in zehnminütigen Abständen live: „Hier ist nach wie vor alles ruhig!“

In Berlin beschloss der Vorstand des Springer Verlags gerade, bei jedem neu eingestellten Mitarbeiter zuvor die Frage nach der „transatlantischen Bündnistreue“ zu stellen. „Wir sind doch alle Amerikaner“, versicherte ein SPD-Politiker treuherzig – und also auch alle direkt vom Attentat betroffen. Die autoritären Kapital-Medien der BRD mobilisieren die Trauer und den Volkszorn schon seit Tagen. In den deutschen Zeitungsredaktionen herrscht überhaupt Euphorie. Die taz verzeichnete sogar einen Aboanstieg – wie sonst nach Reaktorkatastrophen. Mancher Sitzredakteur fühlt sich bereits als rasender Kriegsreporter.

Die offiziellen Kriegserklärungen sind schon ausgetauscht – man weiß nur noch nicht, von wem und an wen. Auch scheint der Frontverlauf noch allzu verworren. Auf der Bonner Hardthöhe hatte uns ein Major – beizeiten schon – diesbezüglich aufgeklärt: „Der russische Soldat will ebensowenig sterben wie unsere Leute, deswegen gibt es da gar keine Probleme mehr – mit Russland. Auch die Aufstellung von Atomwaffen in Polen und Ungarn ist geregelt, da geht es nur noch ums Geld. Die neue Nato-Verteidigungslinie verläuft deswegen nun (ratsch ließ der Major eine neue Landkarte herunter!) – ungefähr hier: zwischen Marokko und Afghanistan und darüber hinaus“. Denn dort – Peter Scholl-Latour hatte schon immer davor gewarnt – geht man noch quasi freudig in den Tod.

Ja, seit dem Attentat – mit dem laut einem Konfliktforscher aus Haifa der „Krieg zwischen Zivilisation und Barbarei“ endgültig ausbrach – ist das Nicht-Sterben-Wollen geradezu zu einem Synonym für Zivilisiertheit geworden. Damit wird aber zugleich der Nichtbesitz von Hightech-Waffen in Militärhänden als barbarisch charakterisiert.

Die Wehrdienstverweigerer der Berliner Kriegsforschung sehen dagegen vor allem in der Enthegung des Konflikts durch terroristische Partisanen eine „Entzivilisierung“ des Krieges – auf allen Seiten, die zudem nicht mehr ihre Zivilbevölkerungen außen vor lassen. Als erster Kriegstreiber und Scharfmacher in dieser barbarischen Richtung gilt ihnen Heinrich von Kleist. Die heutigen Bild- und BZ-Macher stünden dagegen in der entgegengesetzten zivilisierten Tradition – etwa jener preußisch-berlinischen Adelsblätter, die unbeirrt am Westbündnis (mit Napoleon) festhielten, obwohl immer größere Teile des Volkes sich bereits dagegen auflehnten.

Den kleinen Mann erleichtert es immer, wenn die Großen in die Bredouille geraten. Und so gab es nach dem Brand von Moskau mehr Freudenfeuer als Trauerfeiern. Es kam zu Verhaftungen. In Göttingen wurde jetzt ein islamischer Deutscher wegen Missachtung des Andenkens Verstorbener festgenommen – er hatte sich ganz allein über das Attentat gefreut.

Die wiederholt im Fernsehen gezeigten Freudentänze der Palästinenser hatten zuvor bereits „weltweit Abscheu und Ekel“ hervorgerufen. In Südamerika freut man sich deswegen eher klammheimlich, wie der Spiegel gerade enthüllte.

Viele Menschen in den Berliner U-Bahnen sehen nachdenklicher als sonst aus – wie in einen Meinungsbildungsprozess hineingezwungen. Die Intelligenzblätter verzeichnen steigende Abkäufe.