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In der schmalen Zone der Gegenwehr

Vom Schrecken zur Schönheit: Das Folkwang Museum Essen zeigt „William Turner – Licht und Farbe“. Die Blockbuster-Schau zeigt, wie der englische Landschaftsmaler vom Katastrophischen und Spektakulären fasziniert war und sich daher den Vorwurf „Journalismus“ und „große Oper“ zuzog

Das motivische Zentrum: Ruinen, Schneestürme, NiederlagenDie Anschluss-fähigkeit der Bilder an die Moderne ist ein Trugschluss

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Flammen schlagen aus dem „House of Lords and Commons“ und lassen die Themse glühen. Das berühmte Motiv vom Brand des Ober- und Unterhauses in London 1834 wirbt auf Plakaten und Katalogen für die Ausstellung von William Turner im Folkwang Museum Essen. Das Katastrophische und das Spektakuläre, beides zog den englischen Landschaftsmaler an, dem Zeitgenossen deshalb „Journalismus“ und „große Oper“ vorwarfen. Ruinen, Schneestürme, Niederlagen: Dieses motivische Zentrum fällt dem Besucher der Ausstellung auf.

Die Geschichte der Menschen schrumpft zusammen zu einer schmalen Zone der Gegenwehr zwischen gigantischen Himmeln und rauer Natur. Gleich eingangs hängen drei Bilder, die der gerade mal dreiundzwanzigjährige Maler 1798 von einer Reise nach Wales mitbrachte. Die Ruinen alter Festungen stehen schwarz und verstümmelt auf den Klippen einer Küste, angenagt vom Meer, vom Wind und der Zeit. Gegen das späte Tageslicht gesetzt, das sich in den Wolken und dem Schaum der Brandung bricht, erscheinen sie als nicht viel mehr denn durchbrochene Schatten.

So geht es auch weiter: Ein Fischerboot treibt in einem Strudel, dessen Wasserwände im Mondlicht glänzen; schwarze Wolken aus Schnee drücken das Heer Hannibals, das nur an winzigen Lichtpünktchen auf den Rüstungen erkennbar ist, auf einem Pass in den Alpen am unteren Bildrand zusammen. Nicht weniger monumental, im anspruchsvollen Format von 170 mal 140 Zentimetern, ist die Ankunft eines Paketbootes aus England am Pier von Calais gemalt, als eine kaum zu bewältigende und alle Sinne herausfordernde Situation. Schiffskollisionen drohen, und auf dem hölzernen Pier selbst, das den Blick weit auf das Meer hinausführt, halten sich Männer und Frauen an den überspülten Brettern fest.

Doch dass es sich bei der Hingabe an die zerstörerischen Elemente um eine neue Form des malerischen Zugriffs handelt, wird spätestens beim „Niedergang einer Lawine in Graubünden“ von 1810 deutlich. Ein dunkles, schleiriges Grau lässt fast die Borsten des Pinsels ahnen und die vielen darunter liegenden Schichten. Scharfkantig poltert die Lawine herab, eine mit dem Spachtel breit gedrückte Farbmasse. Detailliert ist eine bald zertrümmerte Hütte zu sehen, die umso mehr die sinnverwirrende Beschleunigung der Lawine hervorhebt. Turner malte das Auge überfordernd. Das hat besonders seit Beginn der Moderne Künstler, Betrachter und Historiker begeistert, die das Thematisieren der Bildmittel als ihr eigenes Thema entdeckten und ihn als Vorläufer reklamierten.

Der Blick auf Turner verändert sich im Verlauf des Ausstellungsbesuches. In einer Stimmung gekommen, die sich zunächst vom Drama angezogen fühlt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit immer deutlicher auf die Ästhetik. Niemand kann die 200 Jahre Bildproduktion zur Seite schieben, die zwischen Turners ersten Bildern und uns liegen. Dennoch wird, gerade durch viele Studien und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Bildexperimente, die Kraft der Innovation wieder spürbar, mit der er Landschaften aus ihren idealisierten Kompositionsmustern befreite, mit der er auf veränderte Wahrnehmungsformen antwortete. Turner kämpfte um die Anerkennung der Landschaft als dem Historienbild gleichwertiges Sujet, indem er sie als Ort moralisch-philosophischer Erkenntnisse etablierte.

Der Sohn eines Barbiers, der mit 15 die ersten Aquarelle im Laden seines Vaters verkaufte, betrieb die Kunst auch als Mittel des sozialen Aufstiegs. Das Museum in Essen will Turner als erfolgreichen Unternehmer zeigen, der sich gezielt der Öffentlichkeit der jungen Akademie zu bedienen wusste; auf Kritik flexibel reagierte, seine Sammler pflegte, ihnen in Skizzenbüchern reichhaltige Vorschläge für Auftragsarbeiten anbot und sein Geld geschickt anlegte. Er wurde nicht nur reich, sondern konnte sich auch eine eigene Galerie leisten, deren Ausstellungen mehr dem ästhetischen Experiment und weniger der Konkurrenz mit den repräsentativen Gattungen galten. Das ist eine ungewohnt nüchterne Darstellungsweise, die romantische Künstlerlegenden ebenso wie Turners Selbstinszenierungen entmythisiert.

Tatsächlich lässt die zeitlich geordnete Hängung der fast 200 Bilder den Wechsel zwischen Turners weit vorangetriebenen Erkundungen des Malerischen und den Bildern eines ehrgeizigen Künstlers erkennen, der sich mit Vorbildern unter den alten Meistern und erfolgreichen Zeitgenossen maß. Diese strategische Arbeit am Ruhm offen zu legen, macht den beiden Kunsthistorikern Georg W. Költzsch, Direktor des Folkwang Museums, und Andrew Wilton, Turner-Spezialist der Tate seit über 30 Jahren, in ihren Katalogtexten offensichtlich Spaß. Das passt in eine Zeit, in der eine Ausstellung zum 150. Todestag Turners – die größte bisher in Deutschland – nur möglich wurde, weil sie mit einem anderem Jubiläum zusammenfällt: Der Sponsor Ruhrgas AG blickt auf eine 75-jährige Geschichte zurück und bedankt sich mit Turner bei der Stadt Essen. Eine solche Partnerschaft, glaubt man am Ende gar, hätte dem Künstler selbst gefallen.

Sein Werk beeindruckt nicht zuletzt durch schiere Menge und kontinuierliche Produktivität. Im Atelier bereitete er Bildgründe serienweise vor und fügte Details oft erst in der Ausstellung ein; deshalb sind viele Bilder in einem unfertigen Zustand überliefert, der dafür umso mehr von der Energie der großen malerischen Geste spüren lässt. Von seiner ersten Auslandsreise in die Schweiz 1802 brachte er 400 Zeichnungen mit, die im Juli und August entstanden waren. Zu den 19.000 Arbeiten, die er der National Gallery in wohl kalkulierter Hoffnung auf seine Pflege hinterließ, gehören 300 Skizzenbücher, die teils Blatt für Blatt ausgearbeitet sind, teils die Ufer der bereisten Flüsse wie Textzeilen untereinander reihen. Das ist eine fast filmische Umsetzung der Bewegung des Reisens, ein ununterbrochener Strom der Bilder. Manche Aquarelle bezeugen mit Regenspuren die Arbeit im Freien und wirken durch die Empfindlichkeit des Materials anrührend. Haltbarkeit war keines von Turners Kriterien, und Sammler klagten früh über abgesprungene Farbe.

Turner ist großenteils in englischem und angelsächsischem Besitz. Ein Aquarell von der Marksburg, beliebtes Wanderziel meiner Familie, kommt als Leihgabe aus einem Museum in Indianapolis, die Moselbrücke bei Koblenz aus einer New Yorker Privatsammlung. Die halbe Ausstellung stammt aus dem Tatemuseum. Zu seinen Lebzeiten scheiterten Turners Versuche, auf dem kontinentalen Markt Fuß zu fassen. Als die Festlandkunsthistoriker ihn schließlich zu verehren begannen, war von seinem umfangreichen Werk nicht mehr viel zu haben. Deshalb muss man heute meist zu Turner nach England reisen, denn viele Ausleihen machen die empfindlichen Werke nicht mehr mit.

Doch nicht nur deshalb wurde er zu einer Institution britischer Identität. Er hat die Landschaft und die Küste als Ort von Eroberungen, Besetzungen und Verfall beschrieben. Dazu trugen auch Illustrationen zu Walter Scott und Lord Byron bei. Er war als Künstler erfolgreich in einer Zeit, als die Maler in Frankreich und Deutschland noch unsicher waren über ihre Position in der Gesellschaft nach der Französischen Revolution. Wenn sich heute die junge Künstlerin Tacita Dean, Star der britischen Szene und Turner-Preisträgerin, in ihren reduzierten Videoarbeiten mit Leuchttürmen, Wracks und militärischen Sicherungsanlagen an der Küste beschäftigt, bearbeitet sie damit ein seit Turner künstlerisch entwickeltes Verständnis der Landschaft als nationalem Territorium und Quelle nationaler Identität.

Einige Motive, die in verschiedenen Bearbeitungsformen in Essen zu sehen sind, lassen die vielfältigen Möglichkeiten Turners aufs Schönste verfolgen. Eine Landschaftsstudie und eine Komposition des italienischen Tivoli zeigen die gleiche Szenerie, einmal mit Ruinen und Hirten besetzt als idealisierte, fast bukolisch-folkloristische Erzählung, einmal als pures Farbereignis, das durchscheinende, dunstige Schichten aus Wasser und Licht übereinander legt. Noch mehr vom Gegenstand gelöst als diese Aquarelle von 1817 ist ein fast drei Jahrzehnte später entstandenes Ölbild, das nur noch auf- und absteigende Kräfte, Abgrenzung von Festem und Flüchtigem zeigt. Damit wagt sich Turner auf ein vor der Gestaltwerdung liegendes Gebiet vor, in dem alles in Bewegung ist. Zu diesen fast abstrakten Bildern seines Spätwerks, die alles in einem ungewissen Dunst aufgehen lassen, fällt dem Turnerspezialist Wilton der Kommentar seltsam schwer. Er weiß, ihre Anschlussfähigkeit an die Moderne ist ein Trugschluss, waren sie doch nicht als öffentliche Bilder gemeint. So listet er die Versuche verschiedener Kunsthistoriker auf, dieses schöpferische Nichts, dieses pure Leuchten der Teilchen, in topografisch konkreten Landschaften zu verorten. Wissenschaft ist manchmal ganz schön absurd.

Bis 6. 1. 2002, Museum Folkwang Essen. Katalog und CD-Rom, 50 Mark

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