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berliner szenenStatisch: Warhols Empire-State-Building-Film

Hallo, Andy?

21.12 Uhr: Sich selbst oder irgendwas, was mit dem eigenen Leben zu tun hat, im Kino wiederzufinden, ist der sehnlichste Wunsch eines Cineasten. Eventuell auch etwas Zerstreuung.

Ich habe bereits beim Betreten des Kinos Arsenal diese Ahnung, dass ich heute mehr über mich erfahren werde, als mir lieb sein kann. Zeit ist genug vorhanden. Seit etwas über zwei Stunden läuft hier zum Start der Andy-Warhol-Retrospektive „Empire“, gut sechs stehen noch bevor. Viel Zeit zur Kontemplation. Die DJs Mo und El Puma vom Elektro Music Department versuchen, die handvoll Besucher bei Laune zu halten. Die Leinwand ist schwarz, bis auf die erleuchtete Spitze des Empire State Buildings. Das war’s, was ich vorher über den Film gewusst hatte. Ich kann nicht behaupten, nicht gewarnt gewesen zu sein.

21.44 Uhr: Factory-Mitglied Ingrid Superstar hat mal in einem Interview erzählt, dass Warhol einen einfach da draußen hinstelle, und einem dann alles selbst überließe. So fühle ich mich jetzt. Seit ich hier im Kino sitze, ist auf der Leinwand NICHTS passiert. Die psychedelischen Schlieren auf den Bildern schreibe ich Materialverschleiß zu. Aber die Musik beruhigt ungemein. Hallo? Andy?

21.57 Uhr: Ich bin froh, hier zu sein. Irgendwann werde ich es zu schätzen wissen, durchgehalten zu haben. Stolz behaupten können, IHN einmal gesehen zu haben. Momentan versuche ich aber, mich auf die blinkende Spitze des World Trade Centers, ähm, Empire Sta te Buildings zu konzentrieren. Meine Suche nach den Blitzlichtern von fotografierenden Touristen verläuft jedoch erfolglos: nichts. Gerade hat Mo zu Pansonic rübergefadet; das kalte Pulsieren hat wirklich etwas Hypnotisches. Die Zeit gerinnt zu einem schwarzen Block, dessen Lichtspiele eine enorm stimulierende Wirkung auf mich haben. Ist besser als Space Night!

22.08 Uhr: Ein Rollenwechsel!!! Kurz ist eine Person vor der starren Kamera zu sehen. Dann wieder: die vermaledeite Spitze des Hochhauses. Die Publikumsfluktuation ist groß, das Filmkunsthaus als Chill Out-Zone. Hinter mir quatscht ein Typ seine Begleiterin voll. Ich bin allein.

22.14 Uhr: Immer noch nichts passiert. Meine Gedanken schweifen ab. Reiß dich zusammen! Schließlich bist du Zeuge des längsten “Establishing Shots“ der Filmgeschichte. Das ist sie, die Apotheose von Zeit. Ich glaub, ich bin druff.

22.18: Kurze Zweifel. Durchhalten! Ich versuche wieder, mich auf die Spitze des Empire State Buildings zu konzentrieren. Die Wahrnehmung intensivieren. Neue Bilder in den musterartigen Schemen zu entdecken: Satansgesichter, Hinweise auf eine Weltverschwörung ... einen Flaschenhals. Ich gehe an die Bar.

22.29 Uhr: Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass im großen Kinosaal vom Arsenal die Notausgangsleuchte in einem Intervall von 64 Sekunden flackert? Nur ganz leicht . . .

22.35 Uhr: Was mache ich mir morgen zu essen?

22. 47 Uhr: Aus einem Protokoll von Jonas Mekas während der „Empire“-Dreharbeiten: „Ist eigentlich schon etwas passiert?“ – „Nein“ – „Gut!“ – Ich pack’s nicht. Ich muss raus.

ANDREAS BUSCHE

Warhol-Retrospektive im Arsenal: „Lonesome Cowboys“ am 4. 10., „Tarzan and Jane Regained, sort of“ am 6. 10., „The Velvet Underground and Nico“ am 7. 10., alle ab 21 Uhr

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