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Terrorismus nach dem 11. September

Alter, kalter, neuer oder nur vermeintlicher Krieg: War der internationale Terrorismus eine unterschätzte Bedrohung und wird er nun überschätzt? Die Politologen werden ihre Analysen zu diesem Phänomen an einigen Stellen einer Revision unterziehen müssen. Eine neue Gefahrenabwägung steht an

von BRIGITTE WERNEBURG

In Nordirland, wo man genau verfolgt hat, wie viele Tote und Verletzte der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten seit 1969 gekostet hat, ist man auf eine Zahl von über 3.000 Toten gekommen. Auch ohne diesen Vergleich sind 7.000 Tote in Folge der terroristischen Anschläge eines Tages eine unerhörte Zahl. Die Statistik macht die Dimension des Terrors allerdings noch einmal deutlicher. So gesehen wundert es nicht, dass nach den Anschlägen von Krieg gesprochen wurde. Nur aus Kriegen kannte man bislang Angriffe mit einer so hohen Zahl von Opfern menschlicher Zerstörungswut. Und angesichts der extrem hohen Opferzahl kommt man nicht umhin zu vermuten, dass sie von den Terrorkommandos gewollt war.

Spekulationen darüber, ob die Terroristen auch willens seien, biologische und chemische Waffen einzusetzen, können deshalb nicht nur als Hysterie abgetan werden. Nun ist die Herstellung von biologischen und chemischen Waffen weder besonders schwierig noch besonders teuer. Im technischen Sinne diffizil ist nur ihre Ausbringung. Die Anfangssequenz von Robert Altmans „Short Cuts“, wo Helikopter im Dämmerlicht über Los Angeles hinwegfliegen, um Insektenvernichtungsmittel auf die Stadt regnen zu lassen, ist keine Erfindung. Los Angeles wird während der Fruchtfliegenepedemie regelmäßig besprüht. Ein Szenario, in dem plötzlich ein noch viel giftigeres Gift vom Himmel fällt, scheint da nicht unplausibel. Es wundert also nicht, dass keine Sprühflugzeuge in den USA mehr starten dürfen.

Überschätzter Terror?

Überschätzen wir nun den Terrorismus, den wir so lange unterschätzt haben? Und haben wir ihn unterschätzt? Diesen Fragen geht ein Beitrag in dem gerade erschienenen, von Claus Leggewie und Richard Münch herausgegebenen Suhrkamp-Reader „Politik im 21. Jahrhundert“ nach. Peter Waldmanns Analyse wurde natürlich lange vor dem 11. September geschrieben. Jetzt zeigt sich, manche seiner Überlegungen sind revisionsbedürftig; allerdings nicht das Fehlen des Wortes Krieg in seiner Analyse. Auch der amerikanische Politikwissenschaftler und Terrorismusspezialist der Universität Los Angeles, David C. Rapoport, meinte nach dem 11. September, dass Collin Powell vollkommen Recht habe, darauf zu bestehen, dass es sich nicht um einen Krieg handele. Ja, gerade wer davon ausgeht, dass es sich um einen Krieg handelt, so Rapoport, der solle Clausewitz lesen.

Nach Clausewitz ist ein Krieg durch Politik definiert, aber auch durch Politik begrenzt. Tatsächlich muss jede Aktion im Krieg nur als vorläufige Tat betrachtet werden, „ein vorübergehendes Übel, für welches in späteren Zeiten noch eine politische Abhilfe gewonnen werden muss“. Doch diese Sicht der Dinge ist sicher nicht die von Terroristen, die sich keinen Namen geben, weil sie offenbar kein politisch verhandelbares Anliegen haben. Ihre „Kriegserklärung“ (Gerhard Schröder), so schrieb Georg Seeßlen vor kurzem in dieser Zeitung, hat nicht nur keinen Autor, sie hat darüber hinaus auch „keinen Text“. In einer Kriegserklärung, so fährt Seeßlen fort, „die nicht die Form eines Textes, sondern die Form von Bildern hat, gibt es weder eine diskursive Ursache noch eine rationale Absicht“. Weder bombt man etwas herbei, noch zwingt man jemanden zu Verhandlungen und erläutert, warum man sich zu diesem Schritt gezwungen sah. Dass „die vom Terrorismus ausgehende Gefahr für die Zukunft nicht überschätzt werden“ darf, weil der „Terrorismus keine militärische Strategie und Bedrohung ist, wie die USA die Welt glauben machen wollen“, diese Schlussfolgerung Waldmanns hat sich als übereilt erwiesen.

Zeichen setzen

Wenn die terroristischen Anschläge am Ende des 20. Jahrhunderts ganz allgemein adressenlos und damit schwer dechiffrierbar geworden sind, wie der Politologe schreibt, dann könnte man – anders als er – meinen, dass es eben nicht nur darum geht, „ein Zeichen zu setzen“, sondern dass es – viel gefährlicher – ums Ganze geht. Dass der Einsatz von militärischen Mitteln im Kampf gegen den Terrorismus wenig sinnvoll ist, mag beruhigen, was einen dritten Weltkrieg angeht. Dass das Mittel der Politik im ostentativen Schweigen der Attentäter nahezu ausgeschlossen wird, ist allerdings wieder beunruhigend. Zumal die Leere im Zentrum des Terrors die Gefahr mit sich bringt, in den antiamerikanischen Protesten den fehlenden Bekennerbrief sehen zu wollen.

Mehr als die Motivlagen oder die Veränderung der Organisationsformen, so berichtet Peter Waldmann, beschäftigte die Terrorismusexperten in den letzten Jahren die Frage, ob Terroristen zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln im Stande und bereit sind. Bereit ja, dürfte man nach dem 11. September spekulieren. Im Stande eher weniger. Trotz des Präzedenzfalls der japanischen Aum-Sekte, die in der Tokioter U-Bahn das Giftgas Sarin versprühte, bleibt es weiterhin schwierig, die biologischen und chemischen Giftstoffe in letaler Dosis zielgerichtet zu verbringen. Und da Terror heute immer Aufmerksamkeitsterror ist, der über die elektronischen Medien eine globale Öffentlichkeit erreichen will, liegt ein für die Terroristen nicht unbedeutendes Risiko beim Einsatz von Biowaffen darin, dass dieser Einsatz womöglich zunächst gar nicht als Anschlag bemerkt wird. David C. Rapoport jedenfalls sagte nach den Anschlägen in einem Interview der L.A. Weekly, dass ein Grund, warum man nicht auf diese Art des Angriffs vorbereitet war, wie er sich am zweiten Dienstag des September abspielte, die nahezu ausschließliche Konzentration auf ABC-Waffen war. „Alle Konferenzen, die ich besuchte, waren darauf fokusiert.“ Von den 60 Milliarden Dollar, die seit 1993 im Kampf gegen den Terrorismus aufgewendet wurden, ging das meiste Geld in diesen Bereich – was Rapoport auch jetzt noch für falsch hält.

Planung flog nicht auf

Es geht jetzt also doch wieder um Motivlagen und um die Drahtzieher. Rapoport wundert, dass die Planung nicht aufflog. Er kenne kein Beispiel, bei dem – über einen so langen Zeitraum hinweg – so viele Leute eingebunden sein mussten, um einen Anschlag zu realisieren. Man darf hier sicher weitergehend spekulieren, dass eine solche Aktion ohne geheimdienstliche Logistik und geheimdienstliches Know how nicht möglich ist. Es müssen nicht unbedingt Länder und Staaten hinter den Attentätern stehen und als ihre Sponsoren auftreten, es reicht, dass abgespaltene Teile der international bestehenden militärischen und zivilen Geheimdienstapparate zu diesen Terrorgruppen finden. Staatsterrorismus, und zwar nicht nur der bekannter so genannter Schurkenstaaten, spielt also in Form dieser abgespaltenen Teile sicher eine Rolle. Dazu kommt, dass Terrorismus und organisierte Kriminalität nicht wenige Züge gemeinsam haben. Wenn die Ausbildung islamischer Kämpfer in Afghanistan über die Herstellung und den Handel von Heroin finanziert wird, dann ist diese Verbindung sogar ein wesentlicher Aspekt der internationalen Terror Inc., die auf einem globalen Gewaltmarkt agiert, der vor allem in den Bürgerkriegsgebieten der Dritten Welt Lebensunterhalt für viele garantiert.

Trotzdem gehören der als Hauptverdächtiger geltende Mohammed Atta, der das Flugzeug in den nördlichen Turm des World Trade Centers gesteuert haben soll, oder Marwan al-Shehhi, der das zweite Fluzeug gesteuert haben soll, das in den Südturm raste, sowie Ziad Jarrah, der an Bord der Maschine war, die bei Pittsburgh abstürzte, gerade nicht zu den Depravierten, die auf dem globalen Gewaltmarkt angeworben werden. Jarrahs Onkel soll dem unauffälligen, freundlichen und, wie ihn Kommilitonen beschreiben, weltoffenen Studenten monatlich 2.000 Dollar überwiesen haben. Auch Mohammed Atta stammte aus einer vermögenden Familie. Nach dem Abschluss seiner Diplomarbeit schrieb er sich für einen Studiengang „wissenschaftliche Weiterbildung“ ein, der Absolventen eine Übergangslösung bietet, die nicht sofort einen Arbeitsplatz finden. Die drei offenbar gut assimilierten Männer in Hamburg sind also genau derjenigen Gruppe ausländischer Studierender zuzurechnen, für die nach dem geplanten neuen Einwanderungsgesetz der Aufenthalt in Deutschland erleichtert werden soll. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie es sich auf die Einwanderungsdebatte auswirken wird, dass ausgerechnet privilegierte junge Männer der begehrten technischen Intelligenz als so genannte Schläfer enttarnt wurden. Ein gutes Maß an naivem Klassenbewusstsein gehört natürlich dazu, zu glauben, dass mit den einwandfrei Intelligenten tatsächlich auch die moralisch Einwandfreien kämen; also die, die nur Nutzen, aber keine Probleme brächten.

Neue Güterabwägung

Plötzlich steht eine neue Güterabwägung auf der politischen Tagesordnung: die Abwägung zwischen Bürgerrechten und Sicherheit. Schon jetzt kommt das hochproblematische Mittel der Rasterfahndung zum Einsatz. Die Universitäten in Frankfurt, München und Darmstadt bestätigten die Herausgabebeschlüsse ihrer Länder nach den Daten von Studenten bestimmter Nationalität. Auch wenn man der Rasterfahndung und anderen Sicherheitsmaßnahmen unter den gegebenen Umständen nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, bleibt das Misstrauen, inwieweit die Parteien und die staatliche Administration womöglich politisches Kapital daraus schlagen werden. In seiner Instrumentalisierung durch den Staat und in dessen Überreaktion auf ihn liegt nach Waldmann auch die zerstörerische, destruktive Gefahr des Terrors.

Wenn der Terrorismus, wie der Autor schreibt, keine isolierte Erscheinung ist, sondern überwiegend im Kontext breiterer Protestbewegungen steht, dann ist dieser Zusammenhang heute unklarer denn je. Warum ist ausgerechnet heute, in den Hochzeiten der Globalisierung, der linke, sozialrevolutionäre Terror, der die 70er- und 80er-Jahre beherrschte, fast vollkommen verschwunden? Ist die Schlussfolgerung zulässig, der islamistische Terror habe ihn einfach ersetzt, sei eine heutige Reaktion auf die sozialen Verwerfungen und politischen Ungerechtigkeiten, die „den Siegeszug des rationalen kapitalistischen, okzidentalen Entwicklungsmodells“ begleiten? Auch hier wird man neu überlegen müssen.

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