: Leben und Sterben in Megalopolis
Das japanische Theaterkollektiv Ishinha zeigt die europäische Erstaufführung seiner Jan-Jan-Oper „Ryusei“
An eine riesige ausrollende Welle erinnert das Dach. Der italieni-sche Stararchitekt Renzo Piano hat das Terminalgebäude für den Flughafen von Osaka entworfen: eine kühne Konstruktion aus Glas und Stahl. Drei Stunden Autofahrt von der Handelsmetrople entfernt öffnet sich eine andere Welt: das traditionsreiche Kansai-Gebiet um die erste japanische Kaiserstadt Nara aus dem achten Jahrhundert. Hier, in dieser an legendären Schreinen und uralten Tempeln reichen Gegend, zwischen Bambuswäldern und schmalen Reisfeldterrassen im idyllischen Bergdörfchen Muroo, zeigt die Theatertruppe Ishinha ihre neuste Jan-Jan-Oper „Sakashima“.
Der Regisseur Yukichi Matsumoto zeigt sein „Sommerstück“ unter freiem Himmel vor Bergkulisse. Mit Freilichttheater für Touristen hat das nichts zu tun, auch wenn am Straßenrand junge Ishinha-Fans aus Osaka zum Sportplatz von Muroo pilgern. „Sakashima“ findet nur hier und voraussichtlich niemals wieder statt, denn für Matsumoto sind Aktion und Ort eins. Ursprünglich bildender Künstler, ist er von den Happenings der japanischen Aktionisten um die Gutai-Gruppe aus den Fünfzigerjahren beeinflusst. „Ishinha“, zu Deutsch: Reformtheater, gründete er 1970, um das Theater zu erneuern und aus den konventionellen Häusern ausziehen zu lassen. Mit dem etwa 50-köpfigen Kollektiv inszenierte er auf ausgedienten Eisenbahn- und Hafengeländen sein gigantisch angelegtes musikalisches Bildertheater.
Der Arbeitsplan einer jeden Produktion ist strikt festgelegt: erst Bau der Unterkünfte, dann der Bühne aus Pfählen und Brettern, schließlich die theatrale Umsetzung von Matsumotos Szenenbüchern. Die Spieler tischlern und schneidern, sind Köche, Bühnenarbeiter, Requisiteure und Maskenbilder. Dass die Aufführungen der Non-Profis hochprofessionell wirken, liegt daran, dass der 56-jährige Holzbaumeister, Kunstmaler, Filmemacher und Autor Matsumoto die Akteure wie „Material“, wie Farbe nutzt: zur Komposition seiner Riesengemälde zwischen Himmel und Erde. „Die Darsteller sind weiß geschminkt und uniform gekleidet, weil ich keinen persönlichen Ausdruck will.“ Ein Meister der Raumgliederung und Lichtwirkung, dirigiert er sie wie eine Armee in exakten Synchronbewegungen, entfaltet zum elektronischen Soundtrack einen rapartig pulsierenden Sprechgesang. In vielschichtigen Tableaus spiegelt sich Japans Vergangenheit und Gegenwart, kollektive und individuelle Geschichte.
„Sakashima“ erzählt von den Erinnerungen des asthmakranken Mädchens Nazuna. Unter den Flutlichtstrahlern des sandbedeckten Fußballfelds von Muroo blühen vierhundert Papier-Sonnenblumen. Sie werden Strommasten weichen, dem Lärm der Großstadt, dem Flugzeug der Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg. Vor dem Panorama der Natur wird ihre Zerstörung durch Menschenwerk zum Spektakel. Inspiriert von Episoden aus jahrhundertealter japanischer Literatur verwebt Matsumoto Legenden mit Szenen der Geschichte der technisierten Großstädte.
Auch in seiner Jan-Jan-Oper „Ryusei“, deren europäische Erstaufführung heute in Hamburg zu sehen ist, trifft Mythos auf Moderne, finden sich Bild- und Bewegungsmotive aus „Sakashima“. In der Wüste einer labyrinthischen Metropole rappen, rennen und roboten geklonte Geschöpfe. Ein Albtraum? Oder die Zukunft als faszinierend theatrales Breitwandepos von minimalistisch strenger Ästhetik? Bringt vielleicht das Raumschiff Rettung? Wieder am Flughafen im Sog der Alltagsautomatik, scheinen die geisterhaften Bilder von Yukichi Matsumoto und den Urban Kids von Ishinha längst Gegenwart. KLAUS WITZELING
„Ryusei“, Regie: Yukichi Matsumo, 5. bis 12. 10. auf Kampnagel in Hamburg
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