: „Liebste,Du bist grossartig!“
Anschreibpol eines Briefpolitikers oder: Der Lyriker als alternder Hecht.Die Briefe Gottfried Benns an seine (heimliche) Geliebte Ursula Ziebarth
von KLAUS THEWELEIT
Die Frage, ob man privat geschriebene Briefe berufsmäßiger Publizisten posthum ohne deren Kenntnis veröffentlichen soll, war lange umstritten, ist aber durch eine Reihe von Fällen, etwa Benns, Kafkas oder Freuds nachgelassene Briefe, klar entschieden: Man soll. Warum? Weil sich an den Briefen dieser Autoren schlüssig zeigen lässt, dass sie Teil ihres allgemeinen Schreibprozesses sind, Teil ihrer artistischen oder wissenschaftlichen Produktion.
Benns Briefe an F. W. Oelze, Kafkas Briefe an Felice Bauer, Freuds Briefe an Wilhelm Fließ sind beredte Belege. Das Big-Brother-Prinzip des Zusammenfallenlassens von „privatem“ Leben und seiner gleichzeitigen medialen Aufzeichnung und Verwertung ist im Prinzip eine Erfindung der frühen Moderne, eine Erfindung gerade der „großen (Un)Heimlichen“, als die etwa Benn oder Kafka sich darstellten. Freud bat den Exfreund Fließ explizit, die von ihm empfangenen Briefe, die sowohl alle seine Textentwürfe enthalten, wie sie auch Freundschafts- und Liebesbriefe sind, bitte zu vernichten. Fließ tat dies nicht, wie es auch Felice Bauer und Milena Jesenskà nicht taten, wie es auch Oelze nicht tat, und auch die beiden Frauen nicht, die in den Dreißigerjahren (Liebes)Briefe von Benn erhielten, Tilly Wedekind und Ellinor Büller-Klinkowström. Sie bewahrten alles auf. Aus persönlichen Sentimentalitäten? Dann lägen die Briefe heute noch in verstaubten Truhen, die Maus würde drauf kacken auf dem Dachboden, ein zufälliges oder halb bedachtes Feuer würde sie erfasst haben, und sie wären auch uninteressant.
Nein, die Empfänger der Briefe, Frauen wie Männer, haben realisiert, dass diese Briefe nicht nur „an sie“ gerichtet waren, als so oder so geliebte Personen. Sie haben sie gelesen als Dokumente eines weiterreichenden Umgangs mit Wirklichkeiten, als Ausdruck der Unwilligkeit dieser Autoren, ihr jeweils an „nahe Personen“ Geschriebenes von ihren übrigen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen abzukoppeln. So lässt sich Peter Rühmkorfs Reim von den Bennschen als den „schönsten Versen des Menschen“ ausdehnen auf nicht wenige Briefe Benns.
Adressat dieser Briefe war damit immer auch eine allgegenwärtige Öffentlichkeit, „wir, ihr, sie“. Anders gesagt: Die Briefe sind Teil der Revolution des Nachrichtenwesens, zu dessen Bestandteil auch die Poesie im 20. Jahrhundert mutierte: Resultate der Revolution der Aufzeichnungstechnologien, wie sie sich im Politischen etwa in der flächendeckenden Praxis des Abhörens und Aufzeichnens aller „interessierenden“ Lebensbereiche der abgehörten Objekte manifestiert hat. Die gesellschaftspolitische Modernität dieser Autoren liegt zu einem nicht geringen Teil darin, in ihrer Schreibarbeit sich selbst abgehört zu haben; ihr eigenes Spionagesystem gewesen zu sein, auf der Grundlage von „Selbstbeobachtung“, plus ihren dokumentierten Obsessionen für Vorgänge der Post, des Telefonierens, für Grammofone und Kinoprojektionen. Die „Privatheit“ (auch von „Liebesbriefen“) verging unter den Aktionsweisen dieses neuen Personentyps. Genau dies scheinen die Adressaten bemerkt zu haben, als sie die Briefe eisern aufbewahrten.
Heutige Autoren dieses Typs wissen gleich, was los ist: Sie überspringen den direkten Adressaten und schreiben ihre Briefe gleich in Bücher, etwa Peter Rühmkorf in seinen „Tabus“ oder Rainald Goetz, avancierter, als offene E-Mail oder ins Internet unterm Namen Abfall. Brief-Literatur ohne Adressat und Briefmarken, mit Netzgebühren.
Jetzt ist ein bisher unbekanntes Konvolut Bennscher Briefe erschienen; auch sie nicht vom Dachboden oder als antiquarischer Fund, sondern sauber aufbewahrt von Ursula Ziebarth, seiner (heimlichen) Geliebten der letzten zwei Lebensjahre, geschrieben hauptsächlich zwischen August 1954 und Januar 1956. Es sind 252 Briefe, Zettel und Telegramme, also beinah jeden zweiten Tag ging eine Post von Berlin nach (meistens) Worpswede, wo U. Z. sich überwiegend aufhielt: eine letzte amouröse Eskapade des 68-jährigen Benn. Sie war Anfang 30; der Kitt: ihre weite literarische Bildung, ihr spezielles Ohr für Bennsche Töne und ihr spezifisches Jungsein. An Oelze in Bremen, den Benn als Alibi einspannt für einen Worpswede-Besuch bei der Geliebten, begründet Benn sein Verhalten überrumpelnd schlicht damit, „dass es einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stößt, auf eine Berührung der Sphären, zu denen natürlich auch die Erotik gehört, die aber etwas ganz anderes bewirken und bedeuten, nämlich eine Art Bewegung affektiver Schichten, die einen für eine Weile fortführen von Erstarrung, Müdigkeit, Fettwerden, Ranzigwerden – von all diesen Dingen, in die ich gekommen war und aus denen ich hier kein Entkommen sah“. Eine neue Antriebskraft fürs Schreiben also, wie Oelze das ja kannte; er tat Benn den Gefallen und organisierte ein „Treffen“ mit Benns Bibliographen Edgar Lohner . . . die Beziehung wird dann hitziger und läuft etwas aus dem Ruder dessen, was Benn sonst seine „Regie“ nannte für solche Fälle . . .
Liebesbriefe also? Auch, einige. Obwohl der größte Teil dieser Liebesposten im Organisieren von Treffpunkten, Hotelzimmeranmietungen, Bahnverbindungen besteht; zweitens aus der Erörterung von Gesundheitsfragen, etwa Besorgung von Wollhandschuhen und Kohlen für das in Benns Augen unterzivilisierte und winterfeuchte Worpswede, in dem er seine Freundin dahinfrieren sah, sowie aus Bennschen Anweisungen, wie Ilse, Benns Ehefrau, aus dem Spiel zu halten bzw. hinters Licht zu führen war. Nicht die angenehmste Lektüre, liebes-bürokratisch, zu einem großen Teil schlicht hintertreppig; in diesem Ausmaß von den bekannten Bennschen Briefkonvoluten verschieden. Benns Briefe an F. W. Oelze setzten ein, als Benn seinen Radio- und Zeitungs-Briefstrom an die Nazis wegen erwiesener Aussichtslosigkeit und aufkeimender Lebensgefahr aufgab – in den Jahren 1934 ff. bis ans Lebensende. Die parallelen Briefströme an die Frauen Büller und Wedekind helfen dabei, die für Benn mehr und mehr entweichende Öffentlichkeit der Verlage, der Zeitungen und des Radios zu ersetzen. Alle drei bilden Anschreibpole – Oelze und die beiden Frauen sind, außer Freund und Geliebte, auch Publikum.
Sigmund Freud war wahrnehmend genug, Wilhelm Fließ, den Anschreibpol zu Zeiten seiner größten Wiener Isolation, „seinen einzigen Publikum“ zu nennen (in Fortführung eines bekannten Nestroy-Witzes). Als Benn 1936 Publikationsverbot erhält, reduziert sich sein literarisches „Publikum“ in der Tat auf die Adressaten seiner Privatbriefe. Die gesamte poetische Produktion der Jahre 1935 bis 1945 und dann weiter bis 1948 – solange besteht das Verbot durch die Alliierten weiter – geht in Briefen an Büller, Wedekind und Oelze. Als die beiden Frauen sich als Anschreibpole entziehen (wegen Benns Heirat mit einer dritten Frau), dann nur noch an Oelze. Benns Briefe an Paul und Gertrud Hindemith Ende der 20er, Anfang der 30er haben die gleiche Funktion für die Zeit „vor Oelze“. Benn selber hat sein Gespür für den Charakter seiner Briefe als Arbeitsberichte, Vehikel für Poetisches und als im Grunde „an Öffentliches“ gerichtet, unter Beweis gestellt, als er der posthumen Veröffentlichung seiner Briefe an Oelze nach längerem Widerstand schließlich zugestimmt hat. Damit war das Tor geöffnet für die anderen Briefverkehre, von deren Weiterbestand Benn zu Lebzeiten nichts ahnte.
Heute übertreffen die Briefsendungen Benns an die Hindemiths, an Oelze, an Tilly Wedekind, an Ellinor Büller, an Egmont Seyerlen und Max Rychlin, an die Tochter Nele sowie die diversen Einzelbriefe das zu Lebzeiten veröffentlichte Werk nicht nur an Umfang; sie komplettieren es auch zu einer neuen Qualität. Der Autor Benn ohne Briefe wäre ein sehr halbierter; so wie man das veröffentlichte Buch „Die Traumdeutung“ nur zum Teil kennt, wenn man nicht auch Freuds Briefe an Fließ gelesen hat, in denen Idee und Notwendigkeit zum Traumbuch entwickelt sind. Nicht anders Kafkas Briefe an seine weiblichen Anschreibpole. Die Bände an F. Bauer und M. Jesenskà sind den Romanen an Umfang ebenfalls überlegen und kaum weniger raffiniert konstruiert: alles in allem unschätzbare Dokumente der Weltwahrnehmung und Selbstdarstellung des empfindlichen europäischen Aufzeichnungsmenschen der Frühmoderne; Wort für Wort: Literatur.
Benns Briefe an Ursula Ziebarth erfüllen diese Kriterien nur zu einem sehr geringen Teil.
Es sind vor allem die elf Briefe zwischen dem 27. April und 1. Juni 1955, in denen Benn die Gedichte des Bandes „Aprèslude“, der sein letzter werden wird, mit Ursula Ziebarth bespricht (Nr. 204, 208, 211, 212, 214, 220, 221 - 25, 232). Eingerahmt von Benns Klage, der Bremer Freund Oelze zeige sich nicht mehr zuständig für Benns neue lyrische Produktionen; falle also als hilfreiche Lese-Instanz für dieses Bändchen aus. „Er ist nicht begabt u. begnadet für Lyrik wie für Essay u. Feuilleton, schreibe ihm überhaupt wenig.“ (Nr. 232). U. Ziebarth übernimmt Oelzes Part, liest und kommentiert zu Benns Zufriedenheit, er akzeptiert Vorschläge für die Reihenfolge der Gedichte, freut sich über Einwände und Lob, kurz: Er findet in ihr das zweite Auge u. Ohr, das er zur Endjustierung (fast) aller seiner Produktionen seit den 30ern brauchte: „Liebste, Du bist grossartig! Küsse Dich in Dank und Liebe!“ – Benns Ausruf am 4. Mai 55 nach U. Z.s ausführlichem Kommentar zu den Gedichten. (S. 329 - 32)
Ein Bennscher Klartext-Brief leitete den Vorgang ein: „Es ist sehr, sehr gut, dass wir mal das Thema Literatur angeschnitten haben, es brennt mir so auf den Nägeln. Natürlich weiss ich: Du hast recht. Ich fühle ja, irgendwo, irgendwie mich einrosten u verfaulen – Aber wie herauskommen? Dahinter steht ja immer die Angst, fertig zu sein, nie mehr zu können, sich verausgabt zu haben – eine grässliche Angst. Vor sich selbst nämlich. Die anderen sind mir ja sehr schnuppe. ,Wenn Du die Mythen und Worte entleert hast, sollst Du gehen, eine neue Götterkohorte wirst Du nicht mehr sehn‘ usw. [aus: ,Sieh die Sterne, die Fänge‘] Du bist sehr, sehr lieb, mit mir darüber zu reden. Ich habe ja sonst wirklich niemanden, dessen Urteil mir von Belang erscheint. Oelze ist ein sehr bürgerlicher, sehr bremischer Typ, immer voll Unsicherheit vor allem Neuen u. leider Einer, der sich nie verkneifen kann, anzudeuten: ,Früher war es besser u. vollendeter, was Sie schrieben‘. Wenn er es vermocht hätte, hätte er mich etwa 1948 gestoppt. Er kennt nicht die Unruhe, das Gewagte des geistigen Arbeitens, würde nie ein Risiko auf sich nehmen, alles muss glatt u. im Grunde doch konventionell sein. Also brauche ich meinen Ponny, vergiss das nicht.“ (Nr. 184, 29. 3. 1955)
Deutlicher kann man nicht sagen, was man von der Frau, daneben dass sie jung und schön ist, will: dass sie die Position ausfülle jenes „Gewagten des geistigen Arbeitens“, die im Moment vakant ist. Eine klare Politik des Ersetzens. Vom 10. 5. bis 17. 7. gibt es keinen Brief an Oelze. Und Benn scheut sich nicht, den Freund und Lebensretter auf dem Altar der neuen Geist-Liebe zu opfern. Im Persönlichen ist alles letztlich alternativ und eben nicht das wünschenswertere Nebeneinander. Der Passus über Oelze ist einer der gemeinsten dieses Briefverkehrs.
Aber so ist Benns Pendel: Nur die jeweils gerade Belebten leben in seiner Empathie; die gerade etwas Entrückten sind jeweils des Todes. Sehr modern, wie man weiß. Die meisten Intellectuals des 20. Jahrhunderts tickten so, denen des 21. wird es nicht mal mehr ein theoretisches Problem sein. Auf diese Einleitung hin erfolgte die Sendung der Gedichte von „Aprèslude“. Etwas aus Chopins Welten . . . Vorspiele, Nachspiele . . . für Benn allerdings das Spiel, das er so oft gespielt hat. Von U. Ziebarth hätte man einen Kommentar erwarten können, der solchen Benn-Zügen ins Auge sieht. Aber ausgerechnet zu solchen Vorgängen schweigt sie sich aus.
Von Interesse für die Entstehung Bennscher Gedichte ist außerdem ein Komplex von Briefen mit Details zu einer Konstanz-Reise, Hintergrund des Gedichts „Kann keine Trauer sein“, das Wellershoff später der ersten Gesamtausgabe Bennscher Gedichte vorangestellt hat. Details, die Ursula Ziebarth allerdings schon in ihrem Roman „Hexenspeise“ (1976) weitgehend enthüllt hat. Das sind die Passagen dieses Bandes, die jenen Lesern etwas sagen, die an Benns Produktions- und Briefpolitiken interessiert sind, also etwa mir. Der Rest ist privat, oft bitter; sehr viel Bennsches Schlüsselloch, durch das ich nicht unbedingt hätte blicken wollen. Die sporadischen knappen Äußerungen über schreibende Zeitgenossen wiegen dies nicht auf.
Ursula Ziebarth hat eine ungewöhnliche Form der Veröffentlichung gewählt. Dem üblichen Verfahren mit einem unbeteiligten Herausgeber, der ihre eigenen Erinnerungen an die Liaison mit Benn nur in ausgewählten Anmerkungen und Fußnoten berücksichtigt, wollte sie nicht zustimmen; sie wollte ihre – so lang gehüteten und gehegten – Eindrücke dieser zwei zentralen Jahre in ihrem Leben selber zu Papier bringen. Einer von ihr kommentierten Brief-Ausgabe wiederum stimmte Klett, wo die Rechte für alles Benn-Geschriebene liegen, nicht zu. Der jetzt erschienene Band ist ein Zwitter; geschrieben von zwei Autoren, Gottfried Benn und Ursula Ziebarth; ihre Kommentare, die sie „Nachschriften“ nennt, erfolgen nicht in einem Anhang, sondern jeweils nach jedem Brief, oft umfangreicher als dieser, sichtlich vom Bestreben erfüllt, die alte Liebe und ihr eigenes Leben in soviel Einzelheiten als möglich vorm Auge des Lesers lebendig werden zu lassen. Es handelt sich also mehr oder weniger um Ursula Ziebarths eigene emotionale Autobiographie der Jahre mit Benn, 1954 - 56. So versteht sich der Titel des Bandes: „Hernach“. Zusätzlich gibt es einen Anmerkungsapparat des Marbacher Handschriftenspezialisten Jochen Meyer; irgendein Deal zwischen dem Marbacher Literaturarchiv, Klett, Ursula Ziebarth und Benns Tochter Nele muss da im Hintergrund stehen, von dem uns aber nichts mitgeteilt wird.
Dass eine noch lebende Person die an sie gerichteten Briefe eines berühmten Autors selber publizieren und auch kommentieren möchte, ist zwar ungewöhnlich, im Prinzip aber nicht unverständlich. Es hätte ja ein besonderer Fall nie dagewesener „Authentizität“ werden können. Eine Kommentierung aus nächster Nähe und souveräner Distanz. Gerade letzte fehlt aber immer besonders dann, wenn ein Schatten von Vorwürfen aus den Briefen auf die Geliebte fällt. Jedesmal greift Ursula Ziebarths Kommentar korrigierend ein; jeden Schatten „falschen Verdachts“ weist die Autorin von sich; „Ganz gewiß habe ich nicht gesagt [. . .]“ . . . „So Törichtes gab ich bestimmt nicht von mir [. . .]“ (S. 215) – nicht wissend, dass solche Dementis im Öffentlichen den Eindruck des jeweiligen Gegenteils erzeugen und zusätzlich den von Kleinlichkeit. Hat es ihr niemand gesagt? Niemand auf das Heikle literarischer Urteile hingewiesen?
Welcher Leser nimmt gerne die Ansicht einer Frau etwa über Krimis zur Kenntnis, die in ihrem 80-jährigen Leben je 1 Band Chandler (= gut) und 1 Band Spillane (= schlecht) gelesen hat und nun zu einem Großurteil über das Genre ausholt (S. 402 f.). Man möchte auch nicht 50-mal auf die Formel: „Was Benn hiermit meinte, weiß ich nicht mehr“ stoßen, das ist nicht „Ehrlichkeit“ einer Beteiligten, sondern ungeschickt und überflüssig. Ursula Ziebarth hat ihren Schatz, auf dem sie nun so lange saß und den sie noch zu Lebzeiten unter die Benn lesenden Menschen bringen wollte, irgendwie nicht teilen wollen. Niemand da, der ihr gesagt hätte, dass „der Hit“, nach dem sie tanzten, nicht „Begin the begeen“ heißt, sondern „Begin The Beguine“ . . . Artie Shaws dunkle Klarinette. Vieles klingt, als lebe sie noch in dieser Liebe, allein mit ihrem Schatz, der ihr doch nie allein gehörte, und der mehrmals schwankte, ob er die Beziehung nicht abbrechen solle oder müsse.
Daraus ergibt sich ein wirklicher Einwand gegen diese Behandlung der Benn-Post. Ursula Ziebarth will die Briefe Benns an sie weder im Kontext vorliegender Briefkonvolute Benns behandeln noch im Kontext der oben dargelegten Brief-Politiken Benns – obwohl sie all diese Überlegungen sehr genau kennt. Selbst wo Benn Formulierungen gebraucht, die so ähnlich auch in Briefen an Tilly Wedekind oder Ellinor Büller stehen, bleibt sie fest bei der getroffenen Entscheidung, jedes Briefteil als streng und ausschließlich „an sie“ gerichtet anzusehen; als persönlich an sie gerichtete Liebespost; trotz aller – ihr wohl bekannten – Regelsätze Benns zu solchen Verhältnissen: „Gute Regie ist besser als Treue“ usw.; Benn hat einen ganzen Fundus solcher Sätze; er hat einfach solche Briefe nicht geschrieben, als die die Empfängerin sie hier nimmt. „Von allen berühmten Frauen bist Du die berühmteste: es gibt keine Liebesbriefe von mir; nirgends; nur Ursel Z.“ (Nr. 126). Benn konnte ja so reden, im Glauben, seine Briefe an Tilly Wedekind und Ellinor Büller würden nie auftauchen. Aber U. Z. heute kennt diese Briefe und kommentiert so einen Satz nicht. Oder: „. . . ich möchte Dich trinken: Etwas aus Deinem Kopf, aus Deinem Herzen, aus Deinem Mund, etwas von Dir mitnehmen, das in mir bleibt. (Ich habe so was, glaube ich, noch nie an eine Frau geschrieben – oder es müsste 30 Jahre her sein u. ich weiss es nicht mehr.)“ (Nr. 10) Man sieht doch geradezu sein Lächeln, sehr wohl wissend, „so was“ immer an seine Geliebten geschrieben zu haben. Und wir wissen sogar genau, er hat so was geschrieben, an Frauen, die ihm genau das bedeuteten, was U. Ziebarth ihm in diesem Moment bedeutet. Sie aber, ebenfalls im Besitz all dieses Wissens, verweigert strikt die Erwägung, in dieser Hinsicht Teilstück einer gewissen Bennschen Reihenbildung gewesen zu sein.
Sie folgt strikt einer eigenen Publikationspolitik. Sichtlich leidet sie immer noch unter dem Status „verheimlichte Frau“, den er ihr aufzwang. Sie kämpfte dagegen, vergeblich, schon während der Beziehung, als sie mehrmals Kontakt mit Ilse Benn aufzunehmen suchte, was Benn jedoch jeweils wieder in den Griff bekam. „Leider hatte mich Benn nicht mit ihr bekannt gemacht.“ (S. 298) Was hatte sie erwartet? Ein offenes Dreieck? Oder dass Ilse Benn die Segel streichen würde? Und dann eine „gute Freundin“ geblieben wäre? GB kam mit seiner Frau wieder „ins Lot“; U. Z. scheint das zu kränken, bis heute. Ihr Impuls, diesen Tatbestand doch noch grundlegend ändern zu wollen, ist gut nachzuempfinden. Dass Benn dabei oft genug aussieht wie einer jener Meiers und Müllers mit ihren Liebes- und anderen Wehwehchen, die er zeitlebens verachtete . . . belanglos wie Fischschwärme im Weltmeer . . . kunstlos . . . u. daher witzlos . . ., ist nicht ihre Schuld.
Tatsächlich weisen Benns Briefe den alt gewordenen Hecht (auch) als solchen Meier-Müller aus . . . einen vom nicht unbekannten Typ dieser alt gewordenen Knaben mit höchster Überempfindlichkeit für alles Eigene, denen die gleiche Empfindlichkeit für die Belange der ihnen Verbundenen sich nur gelegentlich einstellen will. Die Briefe enthalten Passagen, die man Ilse Benn zu Lebzeiten jedenfalls nicht hätte zeigen dürfen, ohne ihr das Herz (nochmal) zu brechen. „. . . das war eine Vermählung, sieh es so an u. denke so daran. Dann ist alles gut“, schreibt Benn an die Worpsweder Geliebte. (Nr. 25)
In Brief 102 nennt er Ziebarth explizit seine „Ehefrau“; oder er erwägt, wie es wäre, falls U. Z. und er einige Zeit „zusammen in einer andren Stadt wohnten“ (Nr. 34). „Natürlich habe ich die Absicht, nach dem Winter für längere Zeit zu Dir zu kommen, um bei Dir zu sein.“ (Nr. 88) „Bleibe mir gut. Wir werden bestimmt noch zusammen wohnen u schlafen gehen können, wir altes Liebespaar!“ (Nr. 224). Solche Wendungen sind gewiss ein Mitgrund für den späten Öffnungstermin der Brieftruhe. Ilse musste erst in die Grube.
Wer Benns Brief-Politiken allerdings kennt, weiß: Das ist alles nicht unbedingt so wörtlich zu nehmen, wie es da steht. Es gibt entwertende (wahrhaft niederschmetternde) Äußerungen über fast alle Freunde und Geliebten seines Lebens, schriftlich gegenüber Dritten. Es gibt sie auch über Ursula Ziebarth, in Briefen Benns an Astrid Claes, einer Art „Rivalin“ Ursula Ziebarths zu gleicher Zeit. Ursula Ziebarth weiß auch das, stellt sich aber unwissend. Benn soll gesagt und in Briefen geschrieben haben – schreibt sie von Briefen, die sie sehr wohl kennt (S. 386). Um die Publikation der Briefe von Astrid Claes gab es sogar juristische Auseinandersetzungen. Sie übergeht all das mit dem Hinweis auf das Schöne, das sie von Benn erfuhr; nur das zähle schließlich.
Bon. Benns Schreibhaltung bestand allerdings lebenslang darin, sich über Personen (wie über politische Verhältnisse) in sehr verschiedener Weise zu äußern, an verschiedenen Stellen und höchst widersprüchlich, „ich-los“, „charakterlos“; u. a. aus dieser fast „experimentellen“ Allseitigkeit schöpft er die Verdichtungen seines Schreibens. Rücksichten auf „Personen“ gibt es dabei im Geschriebenen selten; „rücksichtslos in Fragen der Kunst“.
Dass die Menschen seiner Nähe, die ihn überlebt haben, dennoch sehr loyal über ihn gesprochen haben und sprechen, liegt daran, dass er den jeweils anwesenden Lebenden als freundlicher, aufmerksamer Mensch gegenübertrat. Auch seine Ehe mit Ilse Kaul wollte Benn unter allen Umständen nicht ruiniert sehen durch das Verhältnis mit Ursula Ziebarth.
Das Wichtigste an der Beziehung zu U. Z. waren dann vielleicht doch die benötigten Kommentare zu den schönen Gedichten von „Aprèslude“? . . . wer will das wissen . . . ich selbstverständlich nicht . . . aber die Fragen auf dieser Ebene muss man wenigstens stellen . . . Ursula Ziebarths Ansichtspostkarten aus Berlin-Worpswede (Werbung mit Herzblut) stellen die Fragen nicht . . . mit den Gedichten von „Aprèslude“ wird sie gewiss verbunden bleiben . . . die Chance einer Briefausgabe von einzigartiger literarisch-philologischer Authentizität, gespeist aus der Berührung zweier (Literatur)Körper, wurde aber nur in Ansätzen genutzt.
„Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth“. Wallstein Verlag, Göttingen 2001, 504 Seiten, 67,98 DM (34,75 €)
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