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Verzicht auf Hässlichkeit

■ Der „Glöckner von Nôtre-Dame“ hat einen neuen Erzähler gefunden. Bremerhavens Ballettmeister inszeniert ihn als Lehrstück in Sachen Leidenschaft und entreißt ihn durch zurückhaltende Theatermittel der Verkitschung

Uraufführungen haben an Bremerhavens Stadttheater Seltenheits- wert. Umso mutiger ist der Schritt des neuen Ballett-Chefs Jörg Mannes, der für das Große Haus ein eigenes Ballett-Stück entwickelt hat und ohne alle Bescheidenheit einen überstrapazierten Mythos erfrischend neu erzählt. „Der Glöckner von Nôtre-Dame“ auf der Bühne? Da möchte man sofort abwinken. Ist es möglich, aus diesem im Kino zum soften Family-Entertainment verflachten Mythos noch Funken zu schlagen? Mannes zeigt die Geschichte um die schöne Esmeralda und den missgestalteten Quasimodo als intimes Kammerspiel, in dem die Emotionen der Protagonisten im Mittelpunkt stehen.

Die Inszenierung verzichtet auf (fast) alle dekorativ-realistischen Elemente, kein Mittelalter in Sicht, von Nôtre-Dames Fassade gibt es nacheinander mehrere große (S/W)-Fotos, auf die Bühnenrückwand projiziert, der Turm ist in Schräglage aufgenommen, er hängt ebenso schief wie der schmale, rotgefärbte Rahmen, der die Bühne von vorn einfasst. Susanne Sommer (Bühne und Kostüme) hält mit diesem schlichten Bild etwas Verstörendes, Irritierendes fest, und nur die zwei seitlich in den Raum ragenden Wasserspeier, die zwei bissigen Wächter-Dämonen der Kirche, erinnern dezent an den Originalschauplatz. Auf dem Querbalken des roten Rahmens ein lateinischer Spruch, der am Schluss angeleuchtet wird: „Soweit das Schicksal es erlaubt“ ist das Motto dieser Inszenierung.

Jörg Mannes schält aus dem his-torischen Drama den Kern heraus, der ihn interessiert: Das Drama der Leidenschaften, die heftigen Emotionen im Kampf um die Liebe, in dem drei sehr verschiedene Männer um eine Frau werben. Die erzählerische Kraft der Choreografie wird von einer außerordentlich stimmigen Musikauswahl unterstützt, die die starken Gefühle der Beteiligten zum Ausdruck bringt. Die französischen Komponisten Gabriel Fauré, Saint-Saäns und César Franck bilden die emotionale Grundierung - mit ihren spätromantischen Klängen sind sie pompös, weich und wild zugleich. Zwei vollständige Sinfonien (Franck und Saint-Saäns) werden eingerahmt von kurzen, ruhigen Sätzen Fauré. Hartmut Brüsch als Dirigent versteht es, aus dem großen Orchester allen notwendigen Schmelz zu holen und den musikalischen Fluss exakt auf den Fluss der Bilder abzustimmen. Gerade der Verzicht auf die mit den populären Figuren verbundenen Klischees, der Verzicht auf Zigeuner-Folklore oder auf die monströse Häßlichkeit des Buckligen, öffnen dem Choreografen Jörg Mannes ungeahnte Freiheiten: Auf der Bühne – abwechselnd Innen- und Außenraum der Kirche – ist ein streng stilisiertes Spiel zu sehen. Die Vorgeschichte des Findelkindes Quasimodo wird skizzenhaft angedeutet. Eine Frau (Monica Caturegli) legt dem Domprobst Claude Frollo (Christian Lehner) auf den Stufen von Notre-Dame ein Baby in die Arme. Durchgehend gilt: Es gibt kein Baby, keine Puppen, es gibt keine Messer, keine Peitschen und kein Blut (nur einmal, überraschend witzig, Bühnennebel aus den Mäulern der Wasserspeier). Mannes begnügt sich mit pantomimischen Hinweisen, er vertraut auf die Kraft der Tänzer, die alle Spannung von innen holen.

Es gibt nur die Gefühle und das Schicksal: Die schönen und die hässlichen Körper, die von der Natur begnadeten oder entstellten, die vom Priesteramt verkleideten oder soldatisch verklärten Körper. Der bucklige Quasimodo wird von Mathias Brühlmann ohne künstlichen Buckel gespielt, die hochgezogene Schulter und die schmerzhaft verkrümmten Bewegungen reichen hin, um das innere Drama dieses gezeichneten Menschen zu zeigen, der sich gelegentlich zu Sprüngen aufrafft, die immer wieder ins Stürzen abgleiten.

Eine brilliante tänzerische Leistung. Herausragend daneben Christian Lehner als Priester, der mit einfachsten Mitteln die innere Zerrissenheit seiner Figur zwischen religiöser Pflichterfüllung und (un-) heimlichem erotischem Begehren sichtbar macht: wunderbar, wenn er beim Gebet mit dem Fuß teuflisch ausschlägt. Für den Zwiespalt des Hauptmanns Phoebus findet Mannes ebenfalls ein klares Bild: Wenn Gregory LeBlanc (als heißer Macho-Mann in Latexhosen und Netzhemd) sich von drei tänzelnden Grazien verführen läßt und im Hintergrund Esmeralda auftaucht, wird die Bühne mit einem Gaze-Vorhang geteilt, unter dem er hin- und herrollt, bis er unschlüssig darunter liegen bleibt. Höhepunkt des Stücks ist die Begegnung zwischen Esmeralda (Cassia Lopes) und Quasimodo im zweiten Teil des Balletts. Da tasten sich – zu einem Satz aus der „Orgelsymphonie“ von Saint-Saäns – zwei seelisch verletzte Menschen aneinander heran, und sichtbar wird, was zwischen ihnen steht und was sie verbindet: Der Versuch des Buckligen, die Schöne, die er ins Kirchenasyl gezogen hat, auf seine Schultern zu nehmen, die Blicke, die vorsichtigen Berührungen, das sind anrührende, starke Bilder, die unter die Haut gehen. Das gilt auch für die Verwandlung des Priesters zum Mörder und Denunzianten, dessen Silhouette am Ende als übergroße Schattenfigur hinter der Leinwand auftaucht. Als Schatten erscheinen auch die Verfolger, die Esmeralda aus der Kirche ziehen: Sehr zurückhaltend choreografiert Mannen diese Szenen. Die Massen wirken stets weniger beängstigend als die heftigen Konflikte zwischen den zentralen Figuren, die in einem – simultan per Videokamera gefilmten – Zweikampf enden. Um den Todessturz des Priesters anzudeuten, wird die Kamera, während sie auf den am Boden Liegenden gerichtet ist, blitzschnell in den Bühnenhimmel gezogen. Ein kleiner Effekt, sehr wirksam, diskret und ohne den leichten und transparenten Fluß des Ganzen zu stören. „Der Glöckner von Nôtre-Dame“ hat einen neuen Erzähler gefunden. Jörg Mannes Ballett hat alle Chancen, über die Stadt und ihr Theater hinauszustrahlen. Hans Happel

Stadttheater Bremerhaven, Großes Haus Weitere Vorstellungen am 9., 12., 27. Oktober. Reservierungen unter Tel.: 0471 / 4 90 01

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