: Die Identitäten des V. S. Naipaul
Weil der Nobelpreisträger Inder, Hindu und Engländer ist, kann er unterschiedliche Kulturen aus einer oft ungeliebten Außensicht heraus beschreiben
von PETRA WELZEL
Ein Vierteljahrhundert lang wurde V. S. Naipaul immer wieder für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen, gestern wurde er ihm nun endlich verliehen. Vielleicht ging es den schwedischen Akademiejuroren all die Jahre so wie der Heldin in Susanna Moores Frauenkrimi „Aufschneider“, die zart besaiteten Literaturstudentinnen „Probleme mit der Ironie“ bescheinigte. Sie würden sich nämlich beim Lesen von V. S. Naipaul „so sehr über die misshandelten, ermordeten und zerstückelten Frauen“ echauffieren, „dass sie außerstande wären, die Klugheit der Bücher zu erkennen“. Vielleicht hing es auch mit den immer wiederkehrenden Vorwürfen zusammen, Naipaul – 1932 auf Trinidad als Kind indischer Eltern geboren und dort auch aufgewachsen – habe sich in seinen Büchern über Uganda, Indien oder die Südstaaten regelmäßig besserwisserisch gegeben. Einer, der mit 18 Jahren nach Oxford zum Studium geht, mit Spazierstock und Dandy-Hut flanieren geht, könne kaum in die Seele fremder Gesellschaften und Länder blicken.
V. S. Naipaul hat sich in den 45 Jahren seiner Karriere als Schriftsteller von derartigen Vorwürfen nie beeindrucken lassen. Als 1992 sein Buch über Indien erschien, entgegnete er in einem Gespräch mit der taz darauf: „Wir alle tragen heutzutage vier, fünf, sechs Identitäten, die bestimmen, wer wir sind. So könnte ich sagen, ich bin Inder, ich bin Hindu, aber ich bin auch geboren in Trinidad, ich habe meine Ausbildung in England erhalten, ich lebe in England, ich bin ein Schriftsteller. Ich habe keine Probleme damit, alle diese Ideen in mir zu tragen.“ Die Inder hatten seinerzeit allerdings ein erhebliches Problem mit dem Bild, das der Schriftsteller von ihrem Land und ihrem Leben, ihrem Denken und Handeln entworfen hatte. Vielleicht haben sie auch nicht die Klugheit hinter seinen minutiösen Beschreibungen der Menschen, der Verhältnisse, in denen sie leben, die Worte, die sie über die Missstände, aber auch Selbstverständlichkeiten ihres Alltags fallen lassen, verstanden.
So hat es Naipaul bisher noch mit jedem seiner reportageartigen Beobachtungen gehalten. Er schenkt seinen Studienobjekten sein Ohr und vor allem seine Zeit. Seine Bücher zeichnen sich vielmehr durch Dialoge als Beschreibungen aus. Aber gerade in diesen Gespräche meint man immer wieder wie aus einem Kompendium lesen zu können, wenn es um Fragen der Welt geht und warum unterschiedliche Kulturen nicht mit- oder wenigstens nebeneinander leben können.
Wer etwas über die Dritte Welt, Indien, Pakistan, den Islam, Fundamentalisten erfahren will, ist bei Naipaul gut aufgehoben. Möglicherweise ist der Weltreisende in eigener schreibender Angelegenheit daher gerade in diesem Jahr zum Literatur-Nobelpreisträger auserwählt worden: Die Taliba rufen zum heiligen Krieg auf, Anhänger in Pakistan und Indonesien protestieren teils gewalttätig gegen die Bombardements der Amerikaner auf Kabul und Kandahar. Naipaul, der in all seinen Büchern wie ein Reporter genau hinschaut und deshalb auch die Kategorie „Roman“ für seine Bücher ablehnt, jetzt den Nobelpreis zu verleihen, ist von ähnlicher Bedeutung wie die letztjährige Verleihung des Preises an den Chinesen Dao Xingjian. Der lebt schon seit Jahrzehnten in Paris und schreibt dennoch immer wieder über die Fehlentwicklungen und Unterdrückungen in China, seiner Heimat. Nach massiver offizieller Kritik hat Xingjian inzwischen den Dialog mit der alten Heimat eröffnen können.
Möglich, dass Naipaul jetzt Gespräche zwischen Okzident und Orient anstößt. Vor zwölf Jahren hielt er bereits ein Plädoyer für eine universelle Zivilisation: „Die Idee des Strebens nach Glück bildet den Kern der Attraktivität der Zivilisation für so viele, die außerhalb von ihr oder an ihrer Peripherie leben. (. . .) Sie ist eine große menschliche Idee. Sie kann nicht auf ein festgelegtes System reduziert werden. Sie kann keinen Fanatismus hervorbringen. Aber die Menschen wissen, dass es sie gibt, und andere, rigidere Systeme werden daher irgendwann vom Winde verweht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen