: Anthroposophische Cyberculture
Im Internet informieren etliche Foren über Aktuelles und Historisches aus der Welt der Anthroposophie. Aber auch jenseits der anthroposophischen Philosophie gibt es zahlreiche Angebote wie Stellenbörsen oder Fahrgemeinschaften in der Eisenbahn
von CHRISTINE BERGER
Selbst Kritiker des Technikzeitalters kommen um die Nutzung des PC offensichtlich nicht mehr herum. So haben sich in den letzten zehn Jahren nicht nur anthroposophische Versandhäuser und Heilmittelhersteller eine Internetpräsenz zugelegt. Auch Waldorfschulverbände und Steiner-orientierte Printmedien verfügen mittlerweile über mehr oder weniger gepflegte Webauftritte.
Der Austausch von Meinungen und Informationen rund um das Thema Anthroposophie steht etwa beim Online-Auftritt des Monatsmagazins Info 3 im Vordergrund. Im Diskussionsforum, das sich mit einiger Verzögerung auf den Bildschirm lädt, ist unter anderem der Terroranschlag in den USA Thema. Wilde Verschwörungstheorien wechseln sich ab mit Betroffenheitsbekundungen. Um einzusteigen, bedarf es einiger Geduld, da die Beiträge nicht mit Stichworten versehen und nur zeitlich geordnet sind. Weltweite Kontakte können Nutzer über das Adressverzeichnis knüpfen. Dass sich Anthroposophen noch nicht selbstverständlich im Netz bewegen, wird daran deutlich, dass von den 5.630 gespeicherten Adressen ganze 291 über einen eigenen Webauftritt verfügen. Die ganze Bandbreite der Anthroposophie deckt am ehesten www.egoisten.de ab. Dort hat sich der Sonderschullehrer Michael Eggert nicht nur mit selbst verfassten Gedichten und Kurzgeschichten verewigt, sondern übt auch Selbstkritik, etwa in der Rubrik Anthro-Sex. Unter dem Stichwort „Die vollendete anthroposophische Neurose“ stellt er peinliche Sachbuch-Ergüsse vor. Unter anderem geht es um die Geschlechterforschung von Bernard Lievegoed, der Schwulsein durch die Blume als Krankheit tituliert. Der Anthroposoph Dr. Otto Julius Hartmann wiederum beschreibt Frauen ausführlich als Gebärmaschinen. Trockene Theorien aus Steiners Bänden zum Thema Geschlechter machen die Rubrik Anthro-Sex auch nicht gerade erotischer.
So landet man irgendwann doch wieder bei Eggerts frivolen Kurzgeschichten oder bei Steiners „Perspektiven der Menschheitsentwicklung“. Dessen Vision ist aktuell wie nie, schaut man sich den weltweiten Cyberspace an: „So wie heute der Luftraum die Atmosphäre der Erde erfüllt, so werden die abstrakten, automatischen, leblosen Gedanken des Menschen Gestalt annehmen (. . .) Diese werden die Erde überziehen wie mit einem Netz“, schrieb Steiner vor hundert Jahren.
Damit Anthroposophen in eben diesem Netz auch in Jobangelegenheiten fündig werden, hat der Pädagoge Michael Amthor vor zwei Jahren einen Internetauftritt mit Stellenmarkt ins Leben gerufen. Unter der Adresse www.infostelle-amthor.de gibt es Jobangebote von anthroposophisch und alternativ orientierten Projekten und Banken. Mit viel Idealismus pflegt der studierte Pädagoge Seiten zu Themen wie „Grundlegende Studien zu Steiners Philosophie und Methodologie“ oder dem anthroposophischem Zeichensatz, den man via Verlinkung gleich herunterladen kann. Auf diese Weise lässt sich künftig mit der typisch runden Weleda-Schrift die Korrespondenz am Computer erledigen. Ziemlich wahllos wirken die Verlinkungen in der Rubrik Marktplatz. Dort kann man unter anderem Kontakt aufnehmen mit amnesty international oder dem Verein für Anthropophisches Heilwesen.
Aber auch einen Link zum Thema Geheimdienst existiert: Als Opfer der Geheimdienste dürfe man seinen Humor nicht verlieren, steht dort unter anderem. Außerdem sollte man häufig den Wohnort wechseln und auch sonst Katz und Maus spielen. Wer überhaupt ins Blickfeld irgendwelcher Spitzel gerät oder welche Gruppen besonders betroffen sind, wird dort allerdings nicht verraten.
Katzenfuchs, ein Link zum billigeren Bahnfahren, will Anthroposophen zum gemeinschaftlichen Ticketkauf animieren. Und so geht’s: einfach die geplante Strecke eingeben und warten, ob am angegebenen Termin schon eine Bahnfahrgemeinschaft besteht, der man sich anschließen kann. Natürlich kann man auch eine eigene Gruppe eröffnen und hoffen, dass sich noch weitere Mitfahrer finden, mit denen man dann gemeinsam während der Reise über Steiners Schriften diskutieren kann. Mit Anthroposophie an sich hat das natürlich nicht mehr allzu viel zu tun.
Der Internet-Auftritt der Landesarbeitsgemeinschaft Waldorfschulen Berlin und Brandenburg www.waldorf.net widmet sich eher Grundsätzlichem. Dort wird aus anthroposophischer Perspektive ausführlich über den Gerichtsprozess zwischen dem Verband deutscher Walddorfschulen und der Report-Redaktion des SWR berichtet. Stutzig macht allerdings das Datum der letzen Änderung. Es verweist auf den 12. April diesen Jahres. Das ist allerdings noch aktuell im Vergleich mit dem Diskussionsforum zum Thema „Gehören Computer in die Grundschule?“ von 1997. Ähnlich verstaubt zeigt sich der Link www.waldorfschueler.net. Dort wünschen die Producer frohe Ferien. Gemeint sind die Sommerferien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen