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Unser kleiner Literaturbetrieb

Wenn die Leichtigkeit des Seins vorbei ist, darf der Selbsthass des Westens mächtig en vogue werden – über die diesjährige Frankfurter Buchmesse

von DIRK KNIPPHALS

Bei Berichten über die Frankfurter Buchmesse hat sich das Prinzip der Splitter sehr schön durchgesetzt. Die Gründe liegen auf der Hand: Es gibt tausend Eindrücke von tausend Plateaus zu berichten, und übergeordnete Gesichtspunkte, in die sie einzuordnen wären, sind nicht recht greifbar. Auch hat nicht jeder das entdifferenzierende Talent, seine subjektive Auswahl immer aufs Neue mit der Behauptung zu verknüpfen, man präsentiere hier den Star der Messe, den aktuellen Trend. Das sind gute Zeiten für Anekdoten.

Dass es in diesem Jahr nicht so anders ist, ist in der aktuellen Situation immerhin eine Nachricht. Schließlich hat es im Vorfeld der heute auslaufenden Messe, zu ihrem Beginn und auch in ihrem Verlauf vielfältige Versuche gegeben, unseren kleinen Literaturbetrieb mit dem großen Weltgeschehen zu verknüpfen – was Christian Krachts Roman „1979“, als Ausdruck des Ernsts der Lage gelesen, im Wahrnehmungsranking nach oben spülte und manch anderes Buch dafür abfallen ließ: Romane wie Uwe Timms Alt-68er-Geschichte „Rot“ oder Bodo Kirchhoffs „Parlando“ wären unter anderen Umständen sicherlich noch stärker beachtet worden. Natürlich sind sie einerseits ein Stück weit durchgekommen, die Kollegen von FAZ und Süddeutscher, Berliner Zeitung und Welt, die sich mühten, in Bücher, die weit vor dem 11. September entstanden sind, eine Art Kriegsernst hineinzulesen. Andererseits ist so ein quirliges Geschehen wie auf der weltweit größten Buchmesse ebenso selbstverständlich nie auf einen diskursiven Leisten zu schlagen. Es gab halt in der Tat sehr viele sehr ernste Romane, aber sehr viele unernste gab es auch – und auch sehr viele, auf die die Unterscheidung zwischen Ernst und Unernst gar nicht sinnvoll anwendbar ist. Eine Selbstverständlichkeit im Grunde, die aber auf die prinzipielle Konstruiertheit von Trends verweist: Es kommt immer darauf an, wer wo wie gerade hinguckt.

Jedenfalls: Dass, wie behauptet, der „Selbsthass“ das gerade en vogue seiende „Lebensgefühl des Westens“ sein soll, kann unsereiner aus dem zugegeben subjektiven Eindruck der vergangenen Tage heraus glatt dementieren. Wenn ich aufgrund der Erfahrungen unter Kollegen, Verlagsmitarbeitern und Schriftstellern schon ein, zwei Haltungen hervorheben soll, dann würde ich erstens die eines gesteigerten Willens zur Kommunikation wählen (auf Messen wird eben viel geredet) und zweitens eher die der Selbstverliebtheit. Wobei sich in letzterer Hinsicht westliche von östlichen oder südlichen Messebesuchern in keiner Weise unterschieden.

Was sich in Gesprächen, auf Empfängen und vor Messeständen erleben ließ, war so sehr an weltlichen Dingen wie Geschäft und Amüsement orientiert, dass es auf den Begriff des Selbsthasses nun wirklich nicht zu bringen ist. Kann aber auch sein, dass man als naturgemäß weltzugewandter tazler für so ein Lebensgefühl sowieso nicht die rechten Antennen hat. Wie es sich bei der FAZ, die das mit dem Selbsthass verkündete, verhält, wissen wir nicht; wir halten es lieber mit dem Hedonismus.

Darüber hinaus ist man als Mitarbeiter dieser Zeitung traditionell misstrauisch und fragt sich, ob unter dem Vorwand einer veränderten Weltlage nach dem 11. September nicht wieder konservative Positionen ins aktuelle Spiel um Distinktionen eingeschmuggelt werden sollen. Was nicht allein die Frankfurter Allgemeine Zeitung betrifft. Das Editorial der SZ-Buchbeilage, ein kurzer Text von dreißig Zeilen nur, ist in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Dass die „schwerelose Leichtigkeit des Seins“ schon vor dem 11. September „unerträglich geworden“ sei, steht darin. Dass zudem die Gegenwart „auf der Flucht vor sich selbst mit immer neuen Vergangenheiten und Zukünften kokettiert“ habe. Dass es nun aber „ein Ende“ habe „mit den sentimentalen Maskeraden und dem hysterischen Futurismus“. Und dass stattdessen „im Dichten und Denken“ ein „neuer Ton“ hörbar werde, der die Gegenwart „im Ernst“ nach ihrer Herkunft befrage, die Philosophie noch einmal „im Ernst“ nach Begriffen, in die diese Zeit zu fassen wäre, und die Literaturkritik nach der „Stimmgabel, die den Tonwechsel hörbar macht“.

Man soll bei einem solchen Editorial, das als Textgattung, wenn man nicht aufpasst, gleichsam wie von selbst etwas Tönendes annimmt, nicht jedes Wort auf die Goldwage legen. Aber zwei Wendungen in dem vorliegenden Textlein sind gar zu hübsch. Zum einen lässt sich hier geradezu in Reinkultur der alte Intellektuellentrick studieren, das große Ganze nach dem Maßstäben der eigenen Biografie auszubuchstabieren. Kaum also haben Thomas Steinfeld und Ulrich Raulff von der FAZ zur SZ gewechselt, da ist – als sei es bestellt – in der Realität schon etwas geschehen, was ihrem Wirken in München Würde und Rechtfertigung bringt: eine Kehre zur Ernsthaftigkeit nämlich. Glückliche Fügung, kann man da nur sagen.

Zum anderen ist die verwendete Begrifflichkeit interessant. Der „neue Ton im Dichten und Denken“, der „die Kritik nach der Stimmgabel“ fragt, „die den Tonwechsel hörbar macht“ – das ist ein alles andere als dezenter Hinweis, in welche Richtung die Neuausrichtung des SZ-Feuilletons gehen soll. Etwas Rilke klingt in der Formulierung an, ein bisschen heiddergersches, uns befragendes Sein, und die zweifache Formulierung „im Ernst“ spricht sowieso Bände. Mit dem Popansatz, mit dem Claudius Seidl das Feuilleton prägte, bevor er wiederum neulich von der SZ zur Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wechselte, hat das nichts mehr zu tun. Den Kampf um die Position der neben der FAZ vakant gewordenen Stelle des zweiten Leitfeuilletons nehmen Steinfeld und Raulff auf, indem sie im medialen Getöse der Gegenwart nach Stimmgabeln suchen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie denen in Frankfurt gerade die Knie schlottern!

Was die neue Ernsthaftigkeit betrifft, so ist es vielleicht angebracht, noch unseren Eindruck in die Debatte einzubringen, dass auch über die Feuilletons hinaus jeder, der gleichsam ohne Umwege und ironische Rückzugsmöglichkeiten auf sie zusteuerte, nicht ganz koscher aussah. Zum Beispiel war es immer ein heikler Balanceakt, wenn die Verleger in den Eröffnungsreden der abendlichen Empfänge zu begründen hatten, warum man einerseits aufgrund der terroristischen Ereignisse erschüttert sei, andererseits aber nun einen doch hoffentlich netten Abend miteinander verbringen wolle. Letztlich setzte sich die Lesart durch, dass man nun zwar keinen Grund zum Feiern habe, es aber doch eine gute Idee sei, zusammen zu sein und miteinander zu reden – was dann begann, war jeweils die ganz normale Feier wie auch im Jahr davor.

Es brauchte schon den Charme des Berlin-Verlegers Arnulf Conrady, um diesen Trick in der Balance zu halten. Rhetorisch hölzerne Kollegen taten sich da schwer. Und überhaupt war es für die Verlage im Grunde vertrauensfördernder, nicht ständig auf die große Weltlage zu verweisen, wenn es doch nur darum ging, die eigene literarische Ernsthaftigkeit zu betonen. Wo sie in Zweifel steht, nützt auch kein Hinweis darauf, dass einem der 11. September und die gegenwärtigen Maßnahmen der USA nahe gehen.

Wie aber inszeniert man sich als ernsthafter Buchverlag, wenn man denn einer ist, inmitten dieses bunten Messetreibens, zwischen Comic-Ecke und Kinderbuch, in Kontakt mit religiösen Verlagen und sonstigen Special-Interest-Häusern? Der Bedarf an geschmeidigen und stilvollen Lösungen war diesbezüglich vielleicht nie so hoch wie heute. Mit hohem Aufwand an Prominenten und Büffetfreuden Journalisten in einen Hotelsaal zu locken und mit den eigenen Bestsellerautoren zusammenzubringen, wie das die großen Konzernverlagshäuser vorführen, kann jedenfalls kontraproduktiv wirken: Was ein rechter Literaturkritiker ist, bemerkt die Masche und ist verstimmt – selbst wenn er nicht mehr der These anhängt, dass die Literatur und der Markt zwei Bereiche sind, die unbedingt getrennt gehalten werden müssen.

Im Grunde bleibt den literarisch ernsthaften Verlagen nur, auf die Qualität der eigenen Bücher zu vertrauen und zu hoffen, dass sie sich herumspricht. Hilfreich ist dabei die gute, alte Cliquenbildung: für jedes Buch ein lokales Bündnis aus Schriftsteller, Lektor, Verlag, Vertreter, Buchhändler und Kritiker schmieden, diese Kontakte pflegen und hoffen, dass so das Netz zusammenhält, das man gewöhnlich Literaturbetrieb nennt, in Wirklichkeit aber ein dynamisches, fragiles und in bezug auf jeden einzelnen Verlag auch anders gefärbtes Gewebe aus menschlichen Beziehungen ist. Ist vielleicht gar nicht so uninteressant, zu beobachten, welche Clique in Zukunft den westlichen Selbsthass pflegen wird – und welche der Stimmgabelsuche anhängt.

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