: Mehr Akzeptanz für Selektion
„Hier wird nicht gekrümelt“: Straßentheater probt den schillschen Ernstfall in der City ■ Von Kai von Appen
„Möchten Sie noch weiter einkaufen, sonst würde ich Sie bitten, die Fußgängerzone zu verlassen“, sagt der „Einsatzleiter“ Wolfgang Harder energisch und schaut in die Plastiktüte, die der Passant in der Hand hält. Erst nach einigen Diskussionen gewährt der Sicherheitsdienstler den Zugang zur Spitalerstraße. Neben Harder steht eine Kette von Männern und Frauen in schmucken blauen Uniformen der Firma „Argus Wacht“: Dienstausweise an Brust, Stablampen im Halfter - sie haben offenbar die Sicherheit voll im Griff.
Was sich gestern Mittag am Mönckebrunnen abspielte, war zum Glück noch gespielt – vom österreichischen Straßentheater „Scharlatan“, das auf Einladung der Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt nach Hamburg gekommen war. Die Aktion mit dem ironischen Titel „Selektionsakzeptanz“ sollte einen Vorgeschmack liefern darauf, was an Maßnahmen vom Rechtsblock droht, wenn tatsächlich Sicherheitskonzepte zur Vertreibung von Obdachlosen aus der City realisiert werden. Kontrolliert wurden allerdings gestern keine echten PassantInnen – auch diese Rolle übernahmen SchauspielerInnen.
Argus-Kollege Bernd Schlegel hat jetzt am Mönckebrunnen einen richtigen Übeltäter gestellt: „Sie haben gekrümelt“, stoppt er den unauffällig aussehenden jungenMann, der gerade lustvoll in sein Brötchen beißt: „Hier wird nicht gekrümelt!“ Und dann auch das noch: „Ihre Marmelade tropft.“ Als der Mann renitent sein Brötchenpapier fallen lässt, gibt es Alarm. Über Trillerpfeifen ruft Schlegel seine KollegInnen zur Verstärkung. Der Tatort wird mit einem weißen Kreidekreis gekennzeichnet und gesichert.
Zeitgleich schreitet Kollegin Brigitte Klingel zur Tat, sie stoppt eine smarte Frau mit Walkmann: „Was hören sie für Musik?“ „Pop“, erwidert die Frau verschüchtert. „Gut, wenn sie Punk gehört hätten, gäbe es Probleme“. Diese hat ihr Nachbar, als er von dem Argus-Mann Peter Klöppel gefragt wird: „Was wollen sie einkaufen?“ Die kleinlaute Antwort: „Ein Buch.“ Der Mann muss seine Geldbörse öffnen und Bares für die Berechtigung zum Durchgang vorlegen. Klöppel: „Das haben wir in Österreich bei Haider auch so praktiziert.“
Auch die alternativ aussehende Mutter mit Kinderwagen kommt ins Visier. „Sie haben doch gar kein Geld, um hier etwas zu kaufen“, tippt Einsatzleiter Harder und versperrt ihr den Weg. Als sie als Gegenbeleg ein paar neue CDs hochhält, ist für Harder der Fall klar: „Das haben sie doch umsonst gekauft.“
Das Theater wirkte so echt, dass zwar einige wenige echte PassantInnen die neue „Präsenz“ lobten, allerdings auch viele ins Grübeln kamen. „Ob die nachher auch noch so nett sind?“ fragt eine Frau.
Hinz & Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller zeigt sich über die Resonanz der Aktion erfreut: „Es war die richtige Form, humoristisch darzustellen, was passiert, wenn sich Träume von Politikern in die Tat umsetzen und man Sicherheitskräften die Innenstadt überlässt.“
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