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Simplifizierer und Schubladianer

Es schlägt die Stunde des erhobenen Zeigefingers: Brauchen wir nach dem 11. September wirklich eine andere deutsche Literatur? Wer die Lufthoheit über den deutschen Ernst anstrebt, kann auch gleich den Freigeist zur bedrohten Art erklären

von MATTHIAS POLITYCKI

Die neueste Kaffeekreation der New Yorker „Starbucks“-Filialen, so wurde auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse eifrig kolportiert, heißt? Ussama Bin Latte. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, und so selbstverständlich, wie nach Auschwitz weiterhin Gedichte geschrieben wurden, werden nach den Anschlägen vom 11. September weiterhin mittelgute Witze erzählt: Solange sich noch Pointen finden, ist die Welt nicht vollkommen aus dem Lot. Was freilich ebenfalls kolportiert und bereits in manch hochnobler Literaturbeilage dokumentiert wurde, ist ein gegenläufiger Wille zu neuer Ernsthaftigkeit: „Nichts wird mehr sein, wie es war!“, tönt es uns zunehmend aus den Feuilletons entgegen: auch die Literatur nicht! Zur Buchmesse hat sich der anschwellende Gesang verdichtet zur simplen Gleichung mit einer einzigen Unbekannten: 11. September = Ende der Spaßgesellschaft = Anbruch einer neuen schwergewichtigen, womöglich gesellschaftskritischen, jedenfalls ernsten Literatur.

Abgesehen davon, dass die Weltlage vielleicht gar nicht so grundsätzlich neu ist, als dass man mit einer andersartigen Literatur darauf zu reagieren hätte, möchte ich den skeptischen Einschätzungen ihrer Analysten zunächst einmal Recht geben – ein Autor muss mehr sein als die Summe seiner Bücher, er muss einen Standpunkt haben, eine Moral, selbst wenn er nicht Günter Grass heißt, und eine politisch reflektierte Stellung zur Welt: eben all das, was den Vertretern der Spaßliteratur notorisch abgeht. Wenn vom Terroranschlag auf die amerikanischen Symbole nunmehr ein abruptes Ende all dessen induziert wird, das sich vor ein paar Jahren unterm Deckmantel „Pop“ in den Literaturbetrieb eingeschlichen und vorübergehend mächtig breit gemacht hat, dann ist jetzt zumindestens mal durch die Feuilletons der Republik ein Ruck gegangen, und zwar einer in die richtige Richtung.

Was an diesem hastig verkündeten, weil überfälligen Ende der Spaßliteratur freilich bedenklich stimmt, ist die gleichzeitig erhobne Forderung nach deren Gegenteil, nach genereller Verernstung des Erzählens, nach Büchern, die uns mit ihren gesellschaftskritischen Analysen und einem politisch korrekten Wertekanon quälen sollen.

Nichts gegen Ernst, Besinnung, Gesellschaftskritik! Die Ereignisse des 11. September waren eine Zäsur, und die Auseinandersetzung damit ist Pflicht für jeden, der ein Herz hat. Auch das Feuilleton mag sich in solch bewegten Zeiten, ausnahmsweise, als Feuermelder bevorstehender Paradigmenwechsel versuchen, mag meinetwegen sogar eine Zeit lang jedes künstlerische Produkt nach aktuellen Antworten auf die uns bedrängenden Fragen abklopfen. Doch muss es gleich eine neue Kunst einklagen?

Bereits beim Fall der Berliner Mauer wurde von gewissen Großkritikern eine Literatur der aktiven Zeitgenossenschaft gefordert, man sehnte sich nach dem großen Wenderoman, dem großen deutsch-deutschen Wiedervereinigungsroman, schließlich nach dem großen Berlinroman, dem Berliner-Republik-Roman, und erhalten hat man – zum Glück – fast nichts dergleichen. Stattdessen freilich eine ganze Reihe von Büchern, in denen jene Aspekte der Zeitgeschichte als Hintergrundsflimmern enthalten sind.

Unter Schläfern

Und jetzt also erwartet man den großen American-Airlines-Roman, den kleinen Hamburg-Harburg-Roman („Unter Schläfern“), den anti-talibanesischen wahlweise -globalistischen, -bellizistischen Betroffenheitsroman? Kein Zweifel, solche Bücher werden bereits eifrig geschrieben – aber doch nicht von Schriftstellern! Die können ihre Themen ja nicht freiwillig wählen, die werden von ihren Themen gewählt, mitunter regelrecht überfallen und sind ein Leben lang beschäftigt, sie sich wieder vom Hals zu schaffen – Schreiben ist nichts als der unbescheidne Versuch, sich von der Qual einer höchst privaten Vision auf Kosten der lesenden Allgemeinheit zu befreien.

Seltsam, dass Literaturkritiker so häufig etwas bei der Literatur einklagen, das sie auf ihre Sekundärtugenden zurückstutzen würde: ein im Grunde zutiefst humanistischer Automatismus, der immer dann einsetzt, wenn der Lauf der Welt ins Schlingern gerät. Aber damit auch ein durch und durch journalistischer Automatismus, der von politischen Umbruchsituationen vorschnell auf Umbrüche im Bereich der Kunst schließt beziehungsweise aufs Bedürfnis der Künstler, diesen Umbrüchen in ihren Werken Rechnung zu tragen.

Doch gerade das tun sie in der Regel nicht, jedenfalls nicht auf direkte Weise; der Gang nach Canossa ist im „Parzival“ ebenso wenig verarbeitet wie die Schlacht von Waterloo in „Faust II“ oder Bismarcks Reichsgründung im „Schimmelreiter“, selbst im „Simplicissimus“ erfahren wir vom Dreißigjährigen Krieg nur dessen Alltagsgeschichte. Nur? Vermissen wir denn irgendetwas in den genannten Werken? Und überdies: Sollten Bücher etwa das leisten, was Zeitungsartikel oder Fernsehreportagen viel besser können? Oder gilt nicht auch in diesem Fall das Gesetz von der Komplementarität der Medien?

Einen direkten Reflex von Zeitströmungen könnte Literatur allenfalls um den Preis ihrer Indirektheit vulgo Literarizität leisten; im Übrigen dauert Bücherschreiben ja auch viel zu lange, ist seinem Wesen nach eine Beschäftigung mit dem Nichtmehr- oder Nochnichtaktuellen. Das Leiden unter der Last diverser seit Jahren, Jahrzehnten mitgeschleppter Projekte; das eruptive oder planvoll-sukzessive Abarbeiten jener keineswegs freiwillig eingegangnen Verpflichtungen; die nichtsdestoweniger fortherrschende Einsicht, dass Schreiben kein Vergnügen, sondern ein mit ästhetischen Mitteln camouflierter moralischer Akt ist, eine mit zahlreichen Worten kaschierte Sprachlosigkeit; die niederdrückende Gewissheit, dass man all das größenwahnsinnig Geplante in einem einzigen Leben nicht wird schaffen können – das unterscheidet den Schriftsteller vom bloßen Bücherschreiber, und deshalb kann sein Werk beim besten Willen nur bedingt mit den Ereignissen eines 17. 6. oder 3. 10. oder 11. 9. zu tun haben: Literatur entsteht nicht durch Themen, sondern durch Visionen; für Tagespolitik interessiert sie sich schlimmstenfalls in vormärzlichen Zeiten, und dann stets zu ihrem eignen Schaden. Trotzdem schlägt jetzt die Stunde des erhobnen Zeigefingers, und unter dem Vorwand, man brauche ernste, gesellschaftsrelevante Texte, wird ein Rollback eingeleitet, das die literarischen Errungenschaften der 90er im Handumdrehen zunichte machen könnte. Wer bitte sehr „braucht“ denn jene ernsten Romane, mit denen man uns droht; wer wagte denn zu behaupten, dass alle Neuerscheinungen der letzten Jahre unernst gewesen wären?

Wir sind der Ernst

Und wem schlägt denn da die Stunde, wenn man den Feuilletonauguren Glauben schenkt? Niemand anderem als dem, der sich mit solchen Parolen nicht in die Pflicht nehmen lässt, der von der ureigenen Freiheit der Literatur überzeugt ist, insbesondre der Freiheit vom Zeitgeist und den Forderungen, die dieser notorisch an sie zu stellen wagt: In Krisenzeiten haben Weltvereinfacher Hochkonjunktur, und all das, was freie Geister zuvor an Komplexität erstritten haben, droht, wieder auf klare Positionen zurechtgestutzt zu werden. Wenn man jetzt in manchen Feuilletons die Lufthoheit über den deutschen Ernst anstrebt, sollte man den Freigeist dort auch gleich öffentlich zur bedrohten Art erklären – Fundamentalismus setzt schließlich überall dort an, wo Freischwebend-Schillernd-Dreideutiges auszumachen ist. Mit einem Wort: wo man Ironie anstelle des gebotnen Ernstes wittert.

„Irony is over“ – das war der dümmste, weil reaktionärste Satz, der in den letzten Jahren als literarisches Postulat die Öffentlichkeit erreichte; erstaunlicherweise hat er mittlerweile auch bei ebenjenen Konjunktur, die der Spaßkultur entschlossen den Hahn abdrehen: „Wir sind der Ernst!“, ruft uns das Feuilleton jetzt zu, und wer als Autor nicht menetekelt, drängende Fragen aufwirft, beredte Ratlosigkeit verbreitet oder wenigstens öffentlich an den Zeitläuften leidet, wird bald unter Belanglosigkeitsverdacht geraten.

Schwere Zeiten für alle, die dem Leser nicht auch noch mit ihren Büchern zur Last fallen wollen. Sondern davon überzeugt sind, dass ein heiliger Ernst beim Dichten am allerwahrscheinlichsten hohl tönende Werke zeitigen wird, dass eine Weisheit, bei der nicht auch gelacht werden kann, auf eine schaurige Ideologie hinausläuft: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst. Wer jetzt die Ironie zur Untugend erklärt, den haben die terroristischen Anschläge vom 11. 9. tatsächlich erreicht; wer jetzt die Haltung eines freien Geistes aufgibt, der hat schon verloren im Kampf gegen Simplifizierer und Schubladianer – Fundamentalisten sitzen ja nicht bloß in Afghanistan; auch im Literaturbetrieb haben wir unsre Sleeper, die sich in Zeiten des Umbruchs zu erkennen geben.

Reicht es, darauf mit Ironie zu antworten?

Das würden sie als Dogmatiker nicht verstehen, weil sie das ironische Verfahren nicht begreifen und dessen Grundformel: Wer am lautesten lacht, hat auch am leisesten geweint. Als ob Ironie das reinste Vergnügen sei! Wo es doch vielleicht die sublimierteste Form des Leidens an der Welt ist, die luftigste, spielerisch leichteste Zustandsform der Schwermut! Zynische Schenkelklopferei à la Stefan Raab, Sich-lustig-Machen auf Kosten andrer hat mit Ironie nichts zu tun; wohl aber: den Dingen des Lebens durch ihre helle Außenschicht so lange auf den trüben Grund blicken, bis man tatsächlich glaubt, durch eine trübe Außenschicht auf ihren hellen Grund zu blicken. Was, wenigstens vorübergehend, ein frei schwebendes Verhältnis zur Wirklichkeit ermöglicht – ein genuin aufklärerisches Verfahren, das wahrscheinlich mehr an politischer Wirkung gezeitigt hat als jeder gewichtig sich gebende Gesellschaftsroman.

Gewiss, Terroristen sind humorlos und ironieresistent; muss es Literatur in Zeiten des Terrorismus aber deshalb auch sein? Mehr denn je, so meine ich, sollte Literatur die Axt sein für die gefrorne Heiterkeit in uns; und die Zukunft des Romans, um’s einmal nassforsch zu formulieren, wird humoristisch sein oder sie wird nicht sein. Den steinharten Realitäten einen blattgoldnen Hauch anzudichten, das ist seit je das Geschäft des Schriftstellers. An diesem nachgerade französischen Wechselspiel von Oberfläche und Tiefe erkennt man in Deutschland traditionellerweise meist nur die Oberfläche. Um dann von deutscher Literatur, so einfach geht das, mit Vorliebe Tiefe zu fordern, vorzugsweise in Zeiten, da die Oberflächen des konkreten Zusammenlebens aus den Fugen geraten.

Seit Mitte der 90er, als die jahrelange Feuilletondebatte um eine neue Gegenwartsliteratur entschieden war, haben wir eine Bandbreite an Literatur wie schon lange nicht mehr. Wollen wir diesen mühsam erkämpften Spielraum an Neuer Deutscher Lesbarkeit jetzt preisgeben zugunsten einer allerneuesten deutschen Beflissenheit? Wenn unsrer Gegenwartsliteratur tatsächlich am Nachmittag des 11. September die Stunde geschlagen haben sollte, dann nicht etwa den Autoren, sondern denjenigen ihrer Kritiker, die vor lauter Krisenbewusstsein vergessen, dass sie im Selbstverständnis einer Kulturgesellschaft nicht mehr und nicht weniger als deren stellvertretende Leser darstellen. Literatur ist ein Dienstleistungsgewerbe – Literaturkritik aber auch.

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