: Zwietracht unterm Tannenbaum
■ Im Schauspielhaus wird aus Alan Ayckbourns „Schönen Bescherungen“ ein genüsslich goutierbarer Gute-Laune-Abend. Der Unterschied zu normalen Sitcoms: Die Figuren haben einen noch größeren Hau weg
Da sitzen wir und warten auf Besinnliches, so kurz vor Weihnachten. Passend dazu kredenzt das Bremer Theater uns Erwachsenen – die wir „zwischen den Jahren“ mittels eines unerklärbaren regressiven Schubs kurzfristig zu ganz ganz lieben Menschen mutieren – auch mal ein Weihnachtsmärchen.
Das muss naturgemäß ein wenig kritischer daherkommen, was es schlussendlich auch tut, und es bliebe kaum mehr zu fragen als: Haben wir nicht alles, was Weihnachten entzaubern könnte, schon millionenfach gelesen, gesehen, gehört? In Glossen, Filmen, Büchern? Wenn es denn so einfach wäre. Mit dem britischen Dramatiker Alan Ayckbourn hat Regisseur Nicolai Sykosch einen zur Hand genommen, auf den in durchaus angenehmer Weise das Wort ungeniert passt.
Ungeniert kostet er die klassischen Szenen des Boulevards aus, indem er einen Liebhaber im Schrank versteckt oder einen Betrunkenen quer über die Spielfläche torkeln lässt. Ungeniert lässt er aber die gewohnte Nettigkeit des Boulevards immer wieder ins Farcehafte kippen. Zugleich, vielleicht gerade deswegen, haben wir eine Menge zu lachen.
Wie das? Beginnen wir mit dem Ende. Neville und Belinda, ein recht erfolgreiches, recht wohlhabendes und eigentlich auch recht glückliches Ehepaar, sitzt frühmorgens am Tisch. Es ist der 27. Dezember und es schneit. Sie trinken Tee. Und just in diesem Moment, dem ruhigsten des ganzen Stücks, scheint alles Generve, mit dem sie sich die vorangegangenen zwei Tage fast in einen bleiernen Wahnsinn getrieben haben, von ihnen abzufallen.
„Da muss doch noch was sein – Absolut! – Was? – Was du eben gesagt hast“, so ging am Tag zuvor noch ihre eheliche Bestandsaufnahme. Das hat schon etwas Märchenhaftes, so brüchig es sein mag. Zumal Nevilles Onkel Harvey kurz zuvor den Gast von Belindas Schwester Rachel, den undurchsichtigen Schriftsteller Clive („Im Grunde habe ich versucht, meine Ehe loszuwerden. Und damit soviel Geld verdient“), lebensgefährlich über den Haufen geschossen hat. „Zumindest hat er noch Rachel“, sagt Nev. Sie nickt.
Dass Ayckbourn (und Sykosch mit ihm) sämtliche Energie aus dem donnernden Finale zieht, dass Harvey lediglich gebeten wird, sich doch jetzt bitte wieder hinzulegen, dass es just in diesem Moment zu schneien beginnt – das ist das eigentliche Skandalon der „Schönen Bescherung“. Wie eine geheime Absprache, man möge sich auch nächstes Jahr wieder auf die Nerven gehen. So lange, bis zu Weihnachten alles in sich zusammenzubrechen droht.
Sätze à la „wie jedes Jahr“ durchziehen das Szenario. Wieder spielt Harvey (herrlich verschroben: Sebastian Dominik) den Diktator. Wieder kocht die alkoholische Phyllis (Gabriele Möller-Lukasz) das Lamm zu Klump. Wieder bastelt ihr Mann, der selbstzweifelnde Arzt Bernhard (Erzkomödiant Christoph Finger) an seinem totlangweiligen Puppenspiel für die – freilich nie auftauchenden Kinder (um deren Wohl sich doch alles zu drehen scheint). Wieder ist Pattie (Tanja Schupnek) schwanger, weil auch das irgendwie zu Weihnachten gehört, derweil sich Fritz Fenne als Eddie, ihr treudoofer Ehemann mit der bekloppten Lockenpracht auf dem Haupt, vor lauter – scheinbarer – Trostlosigkeit die Hirnzellen wegballert. Und wieder kommt Gabriela Maria Schmeides Rachel mit einem wunderschön ausgekosteten soooo langen Gesicht vom Bahnhof zurück, da ihr Gast natürlich „sowieso nie daran gedacht hat, mit mir zu feiern.“
Genug Stoff also, den anderen immer wieder anzumaulen, sich über die anderen lusig zu machen. Den Drive bekommt Sykoschs Inszenierung, weil er verstanden hat, warum der Texter auf ewiges Psychogewäsch verzichtete.
Es gilt, die Befindlichkeiten über Situationen auszuagieren. Was wiederum eine gewisse Anleihe bei Screwball-Filmen oder Sitcoms bedeutet. Etwa wenn Bernhard immer wieder aus der Küche kommt, um den aktuellen Stand der Cooking Affairs zu verlautbaren. Und dabei immer ein bisschen fertiger aussieht. Fast wie Cary Grant in „Leoparden küsst man nicht“. Die Aussage, alles sei in Ordnung, wirkt immer weniger glaubhaft – schließlich fragt er nur noch nach dem Verbandkasten. Oder Neville, dessen Bastelwahn psychologisch sehr eindeutig als Symptom gewertet werden dürfte, und der nach und nach beinahe alle Geschenke unter dem qua Fernbedienung aufgemotzten Baum reparieren muss, fielen sie doch dem ständigen Gewusel zum Opfer. Die schönste Szene des mit drei Stunden etwas lang geratenen Abends aber ist die Generalprobe zu Bernhards Puppenspiel, von Harvey generalstabsmäßig überwacht. „Ich bin dein einziges Publikum“, sagt er und lässt sich zunächst auf zwei der „Drei kleinen Schweinchen“ nieder. Natürlich klappt nichts; für uns ist es, nun ja: saukomisch. Assistentin Pattie, marienhaft hochschwanger, ist völlig überfordert.
Die siebenunddreißig Schweinemarionetten sind auch schwer zu unterscheiden. Der Vorhang geht auf: „Hurra!“, ruft Onkel Harvey. Bald lässt Pattie den Vorhang versehentlich sinken, was mit einem gebrüllten „BUH!!“ quittiert wird. Irgendwann rennt sie nach oben, bleibt auf der Wendeltreppe sitzen, die die zwei Ebenen des von Stephan Prattes sehr schön als Superschrankwand gestalteten Spielraums trennt. Eddie, ihr zu Hilfe eilend, stochert fahrig in der Luft herum: „Wenn du mich brauchst, Schatz, ... ich bin im Werkraum.“ Und hüpft von dannen.
Im Vergleich zu Harold Pinter und Edward Bond, mit denen Ayckbourn die Trias des nicht mehr ganz so „young british drama“ bildet, sind die Stücke des 62-Jährigen deutlich harmloser. Auch wenn sie Grundsätzliches teilen: Gewalt, Alltag, konkrete Situationen. Autor Clive fungiert als einer der typisch Pinterschen Eindringlinge, der in „Schöne Bescherung“ allerdings nur wenig durcheinander zu bringen hat – ist eh schon alles zerbröselt. Doch diese Familie ist nicht bruchlos mit jenen soziologischen Laborhöllen zu identifizieren, die – mal mehr, mal weniger überzeugend – über hiesige Bühnen geistern.
Man hat sich arrangiert. Ein beklemmendes Bild, andererseits eines, das uns nicht eben fern ist. Das launig agierende Ensemble macht die „Schöne Bescherung“ zu einer kurzweiligen Erzählung auch über das Komische. Ein Mechanismus, in dem Slapstick und running gag funktionieren, gerade weil Weihnachten als Farce oder Komödie ein ausgelutschtes Sujet ist. Im Gegensatz zu vielen Sitcoms haben hier alle einen so großen Hau, dass man sich mit bestimmten Situationen viel mehr identifiziert als mit den Figuren. Ayckbourn zeichnet sie genau, seine nicht gerade bruchlosen Sympathen.
Unser Lachen bekommt ein Geschwisterchen: Es heißt Peinlichkeit und windet sich durch unseren Körper. Rachel drückt dem vor lauter familiärem und amourösem Chaos flüchtenden Schriftsteller Clive den versprochenen Kaffee mit den Worten in die Hand: „Ich hab ja gesagt, es dauert Jahre. Ich führe sogar das Wort Instant-Kaffee ad absurdum.“
Happiness, where are you?
Tim Schomacker
Vorstellungen im November : 4., 18., 20., 24., 28. und 30.11. – jeweils 20 Uhr. Karten unter Tel.: (0421) 36 53 333
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