: Immer mal wieder später
Vorgezogen, verlegt, aber rundum verziert und eine Seite zu viel als zu wenig: Im Tacheles fand zum zweiten Mal die Marathonlesung „Die geschenkte Stunde“ statt
Wenigstens einmal stand wohl jeder gemeine Berliner bereits vorm Tacheles. Wie es sich aber verhält, wenn plötzlich alle am gleichen Abend rein wollen, davon konnte man sich am vergangen Sonnabend ein Bild machen. Das Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Holzbrinck hatte anlässlich der Zeitumstellung – bei der uns ja bekanntlich im Oktober immer die Stunde zurückgegeben wird, die uns im März geklaut wurde – zum zweiten Mal zu einem Literatur-Event in das alternative Kunst- und Kulturhaus geladen.
Wer pünktlich um sieben am Tacheles eintraf, musste erst einmal eines aufbringen: Wartezeit. Die Schlange der willigen Zuhörer bog sich fast bis in die Friedrichstrasse. Chaos. Endlich, im Inneren der Kulturr-Ruine angekommen, hatte man mindestens schon eine Lesung verpaßt. Sarah Khan etwa, die in der zweiten Etage aus ihrem neuen Roman „Dein Film“ gelesen haben soll. Machte aber nichts. In der Hoffnung, dass Peter Schneider lieber eine Seite zu viel als zu wenig las, reihte man sich in den aufwärts fließenden Menschenstrom, der geschlossen den Tacheles-Lage-Zeit-Plan studierte. Als äußerst nützliche Hilfestellung erwies sich ein weiser Zauberlehrling, der im Treppenhaus zwischen den Seilen hing und das abendliche Programm verkündete. Auf diversen Stufen- und Fensterabsätzen standen Menschen mit kleinen Leselampen am Kopf und rezitierten Paul Auster und Benjamin Lebert. Vierter Stock. Super. Peter Schneider las noch immer in den „Happy Gardens“, versunken in einer kitschig-blütenreichen Hollywoodschaukel, die als Bühne diente. Auch der Raum war rundum blumig verziert, künstliche Topfpflanzen hingen in der Luft.
Überhaupt hatte man sich bei der Gestaltung der Räumlichkeiten große Mühe gegeben, den einzelnen Lesestuben nicht nur unterschiedliche Namen, sondern auch einen individuellen Charme zu verleihen. Nachdem es bei Peter Schneider total überfüllt war, schien es angemessen, sich schon einmal auf den langen Weg in den mittigen dritten Stock zu machen, um einen einigermaßen guten Platz bei Klaus Wowereit im „Black & White“ zu erhaschen.
Denkste. Ein riesiger Menschenschwall manifestierte sich bereits vor der Eingangstür, dem nur der verzweifelte Griff zum Presseausweis noch einen hauchdünnen Spalt gewährte. Wowereit las dann zwar nahezu fehlerlos, aber mit dem spröden Charme eines pensionierten Religionslehrers einige vom Lektor vorbereitete Passagen aus Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Zur Entspannung wurden nebenan Körpermassagen mit Aloe vera angepriesen, eine Art esoterische Erste-Hilfe-Station, die der verlorenen Lese-Festival-Seele kurzweilig Zuflucht bot: Die zuvor angekündigte Französin Virginie Despentes, bekannt für ihre freizügigen Sexszenen in „Baise-moi“, stand nicht mehr im Zeitplan, Dorothee Nolte wurde vorgezogen, Wolfgang Thierse ebenfalls verlegt. Am klügsten schien es, auf Jung-Literat David Wagner („Meine nachtblaue Hose“) zu setzen, der als nächster im „Black & White“ angekündigt war.
Für 21.30 Uhr klang „Tom Tykwer im Gespräch mit Knut Elstermann“ erst mal am interessantesten, entpuppte sich allerdings als Überlebenstraining in einem Raum mit dem grotesken Namen „My Space“, während sich im Nebenraum an der Jägermeister-Bar längst keiner mehr für Kultur zu interessieren schien, ganz gleich, ob hohe, niedere oder poppige. Die offene Struktur des Tacheles wurde dem Leseabend zum Verhängnis: Unsicher und überfordert vom Überangebot streunten die Leute durch die Stockwerke, hörten mal hier rein, gingen mal da vorbei, schwärmten erneut aus und verabredeten sich immer wieder für später. PAMELA JAHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen