: Brutalste Ungleichheit
Patentrezepte gegen den Hunger in der Welt gibt es viele, aber fast alle orientieren sich zu stark an den Interessen des Westens. Nötig sind umfassende politische Reformen
„Hungernde Menschen sind eine Anklage an die Weltgemeinschaft. Jeder verhungerte Mensch ist ein Urteil über uns“, so Bundespräsident Johannes Rau kürzlich in Rom. Recht hat er. Und die Zahl der Urteile bleibt alarmierend. Täglich sterben 20.000 bis 30.000 Kinder an Unterernährung und deren Folgen. Trotzdem wurde Hunger als unabänderliches Weltschicksal abgetan – 50 Jahre nachdem er bei uns besiegt war. Lediglich nach Fernsehbildern von akuten Hungerkatastrophen gab es spontane Hilfe, um direkte Not zu bekämpfen. Auch in der politischen Diskussion reagierte man mit Überdruss auf Appelle, sich der Welternährung anzunehmen. Ob jedem klar war, dass Hunger das brutalste Merkmal von Ungleichheit ist und immer massives Konfliktpotenzial in sich trägt? Wegsehen reicht jetzt offensichtlich nicht mehr, da uns die Konflikte direkt und massiv berühren.
Weltweite Ernährungssicherung gehört ganz oben auf die Tagesordnung. Was heute per Fallschirm vom Himmel geworfen wird, muss morgen wieder aus der Erde wachsen. Das ist die erste Aufgabe jeder Regierung – egal in welcher Region der Welt. Zu begrüßen ist der norwegische Vorstoß von 1996 für einen weltweit geltenden Verhaltenskodex, der Regierungen vorgibt, dass das Menschenrecht auf Nahrung sicherzustellen ist. Für diesen Code of Conduct muss sich Deutschland in der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) engagieren. Ziel ist der adäquate Zugang zu Nahrung. Das beinhaltet soziale, ökonomische, kulturelle, klimatische und ökologische Bedingungen. Qualität und Quantität müssen ausreichend sein. „Lebens“mittel sollen akzeptabel für den jeweiligen Kulturkreis und frei von schädigenden Substanzen sein. Die Regierungen sind verpflichtet, existente Zugänge zu Nahrung zu schützen und zu respektieren (dies meint das Verbot, indigene Völker zwecks kommerzieller Landnutzung zu vertreiben); ebenso sind die Regierungen zur aktiven Intervention aufgefordert (also Produktionsmöglichkeiten zu gewähren).
Es zirkulieren viele Patentrezepte in der Debatte, wie die Welternährungsprobleme zu bewältigen seien. Da heißt es etwa: Setzen wir doch auf die Entwicklung von züchtungsbeschleunigender Bio- und Gentechnologie. Doch das ist teuer, fördert monotone Fruchtfolgen, ist in seinen Risiken noch nicht voll abschätzbar und strittig hinsichtlich der Problemlösung. Dieser Ansatz sichert allerdings einigen multinationalen Konzernen die Gewinne aus ihren bisherigen Entwicklungen, denen die „verwöhnten“ Konsumenten des Nordens die kalte Schulter zeigen.
Dann kommen neoliberale Wirtschaftswissenschaftler: Im unzureichenden freien Fluss von Waren und Kapital, im Agrarprotektionismus wie in höheren Produkt- und Verfahrensstandards der industrialisierten Länder sehen sie den Hauptgrund für unzureichende Fortschritte. Als wären die ärmsten Länder und die am meisten zurückgebliebenen Regionen an den Weltagrarmärkten voll wettbewerbsfähig, als würden gerade sie von Präferenzen und gesichert hohen Preisen auf den EU-Märkten profitieren. Als gäbe es überall die erforderlichen Rahmenbedingungen, damit Marktkräfte voll zur Geltung kommen können. Als sei die Agrarwende bei uns eine neue infame Waffe gegen die Menschen in der so genannten Dritten Welt, die weiter auf den „Genuss“ von umweltschädlich hergestellten Lebensmitteln bestünden. Als würden bei uns Verbraucher nur dann sichere und gesunde Lebensmittel kaufen, wenn sie in Europa hergestellt sind.
Übrigens war bis vor kurzem die ökologische Lebensmittelproduktion die weltweit dominierende Wirtschaftsweise. Und sie war und ist allen Bauern zugänglich. Sie vermindert Bodenerosion und erhält die biologische Vielfalt – bedeutsam angesichts des Verlusts von 90 Prozent der Kulturpflanzensorten im letzten Jahrhundert. Die Agrarwende will daher eine weitere Komponente in europäische Agrarpolitik einführen: die Verbesserung der bäuerlichen und regionalen Wertschöpfung mit dem Ziel, die Grundbedürfnisse vor Ort zu befriedigen – sowohl bei uns als auch weltweit. Dies müsste ergänzt werden etwa durch gemeinsame Regeln für die Zertifizierung ökologischer Produkte, die flexibel und kostengünstig eine effiziente Kontrolle sicherstellen. Für über den Eigenbedarf hinaus hergestellte Produkte müssen wir unseren Markt ohne Barrieren öffnen.
Und schließlich gibt es noch die Projektexperten. Sie fordern zusätzliche Mittel – wissend, dass viele Projekte nach Laufzeitende als Projektruinen enden; wissend, dass in einigen der ärmsten Länder das Angebot an Projekten die Nachfrage übersteigt und damit den Willen lähmt, eigenen Einsatz zu zeigen und eigene Verantwortung zu übernehmen; und schließlich wissend, dass Zuschüsse und verbilligte Kredite allzu oft dazu dienen, unsere Techniken zu exportieren, teure Entwicklungsexperten zu bezahlen und unsere Importe von Kaffee, Kakao und Baumwolle billiger zu machen.
Nichts gegen neue Techniken, funktionierende Marktwirtschaft und partizipativ geplante, gut gemanagte, basisorientierte Entwicklungsprojekte: Zur Beseitigung von Hunger und Unterernährung sind diese Rezepte aber nur zum Teil geeignet. Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen konzentriert sich in seinem Ansatz zur Überwindung von Armut und Unterernährung auf vier entwicklungsfördernde Funktionen und Grundrechte: politische Freiheit, ökonomische Chancen, soziale Sicherheit und Transparenz der politischen und wirtschaftlichen Abläufe.
Bekämpfung von Hunger und Unterernährung ist also in erster Linie eine Frage des politischen Willens und umfassender politischer Reformen. So ist die Forderung des Farmers’ Rights Movement“ nach „access to land“ ein wichtiger politischer Baustein, um landwirtschaftliche Produktion zu fördern. Gerade vor dem Hintergrund, dass 70 Prozent der Hungernden und Armen in ländlichen Regionen leben. Davon sind in besonderem Maße Frauen und Mädchen betroffen. Der Schutz ihrer Rechte ist daher ein vorrangiges Ziel.
Vom 2. bis zum 13. November tagt die 31. FAO-Konferenz in Rom. Auf ihr werden viele der hier relevanten Fragen erörtert. Dazu gehört auch ein internationales Abkommen zur Nutzung und zum Schutz pflanzengenetischer Ressourcen für die Landwirtschaft, das zur Verabschiedung ansteht. Es ist von besonderer Bedeutung für die Bauern auf der ganzen Welt, soll es ihnen doch den Zugang zu geeignetem Saatgut zu günstigen Konditionen sichern.
Wir brauchen eine neue Politik, um das wichtigste Ziel des Welternährungsgipfels von 1996 anzupacken: die Zahl der Hungernden bis 2015 zumindest zu halbieren. Ich wünsche mir aber auch eine intensive Diskussion in unserer Gesellschaft. Und zwar darüber, welche Verantwortung unser Land zur Ernährungssicherheit in der Welt zu übernehmen bereit ist.
RENATE KÜNAST
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