: Orgie in Rot-Weiß-Blau
Die Amerikaner zeigen Flagge. Überall in den USA weht das Sternenbanner. Chauvinismus? Gefährlicher Patriotismus? Eher nicht. Es ist der Wunsch nach Identität
Das Foto schaffte es auf viele Titelseiten: Mitten in den Trümmern des World Trade Centers hissen Feuerwehrleute die Flagge der USA. Das Bild wird ähnliche symbolische Bedeutung erlangen wie das wohl berühmteste Foto aus dem Zweiten Weltkrieg, auf dem US-Soldaten ihre Fahne auf der Pazifikinsel Iwo Jima errichten. Und wie immer in Kriegszeiten versinken die USA in einem Fahnenmeer: das Sternenbanner in Vorgärten und Behörden, auf Autos und T-Shirts, von Brücken und Antennen, vor Schulklassen und Kirchen. Die US-Fahne wird zum Verkaufsschlager.
Von Deutschland aus betrachtet, erweckt diese Orgie in Rot-Weiß-Blau Unverständnis und Misstrauen. Von „peinlich“ bis „Hollywood-Inszenierung“ reichen die Urteile aus einem Land, das für seine eigene Fahne keinen Namen findet und sich mit der Farbenlehre „Schwarz-Rot-Gold“ begnügt. Wer bei uns die Fahne raushängt, ist mindestens rechtsradikal. Die Fahnenschwenkerei der USA gilt vielen als die patriotische Generalmobilmachung des Volkes. Schließlich wissen wir, dass „Patriot“ auf amerikanisch „Luftabwehrrakete“ bedeutet.
Zu Recht wirft die Welt den USA ignorante Arroganz vor, wenn es um die Beurteilung fremder Kulturen geht. Doch die europäischen und besonders deutschen Empfindlichkeiten gehen in die gleiche Richtung. Denn wer das amerikanische Bedürfnis, sich in Krisenzeiten um die Fahne zu scharen, als verbohrten Chauvinismus geißelt, hat den ersten Fehler der kulturellen Ignoranz bereits begangen: von sich auf andere zu schließen.
Mit wenigen Ausnahmen verstehen die Menschen zwischen New York und Los Angeles nicht, wie Europa funktioniert, wo dutzende von Ländern mit dutzenden von Volksgruppen auf engem Raum zusammenleben und sich jahrhundertelang bekriegt haben. Andererseits begreifen viele Europäer die USA nicht, weil sie sie an den eigenen Maßstäben messen und „Kultur“ vermissen. In der Tat ist genau das ein zentrales Problem der USA: das Fehlen einer verbindenden und verbindlichen Identifikation, mit der man sich als BürgerIn ohne weiteres dem Land, der Gesellschaft zuordnet. Europäer greifen für diese kulturelle Rückbindung völlig selbstverständlich auf einen jahrhundertealten, oft auch negativ besetzten Wertekanon zurück: gemeinsame Geschichte, Tradition, Blutsverwandtschaft, Religion. All das fehlt den USA in vergleichbarem Ausmaß. Wollen sich die Vereinigten Staaten von Amerika in Krisenzeiten ihrer selbst vergewissern, greifen sie – zur Fahne. Dass in Europa und Deutschland viele politische und kulturelle Symbole aus den USA falsch decodiert werden, ist umso erstaunlicher, als gerade viele Westdeutsche durch ihre amerikanophile Sozialisation und häufige USA-Besuche den Anspruch erheben, „das Land zu kennen“. Schließlich ist man praktisch aufgewachsen auf den „Straßen von San Francisco“ oder in „Dallas“.
Auch anderes erscheint uns, getrennt durch einen Ozean und 300 Jahre unterschiedlicher Geschichte, seltsam. Die Waffengesetze kommen uns irre vor – und sind eine Reaktion auf die Pressionen des englischen Königs zu Kolonialzeiten. Ebenso die Phobie vor einem starken Zentralstaat, der Steuern erhebt – einer der Gründe für die Kolonien, sich von England loszusagen. Wenn das US-Außenministerium die Bundesrepublik rügt, weil hier die Scientology-Sekte beobachtet wird, wundern sich die Deutschen – und vergessen, dass religiöse Freiheit eine der Triebfedern für die ersten weißen Siedler in Nordamerika war. Die hohen Kosten für Kindergärten und Universitäten erscheinen uns ungerecht – und wir vergessen, dass dafür die individuellen Steuersätze in den USA deutlich niedriger sind. Als Schengen-verwöhnte Europäer stehen wir zähneknirschend vor der Beamtin der US-Einwanderungsbehörde und lassen dämliche Fragen über uns ergehen – und bemerken nicht, dass die Behörden nach unserer Einreise kaum noch Kontrollmöglichkeiten haben, während wir zu Hause an Meldegesetze und Personalausweise gewöhnt sind. Wir lachen über ein System, in dem der Kandidat mit weniger Stimmen Präsident wird – und vergessen, dass unsere nicht halb so lange Geschichte des Parlamentarismus unseren Kontinent in die Barbarei gestürzt hat und unsere Väter und Mütter sich bis zuletzt dagegen gewehrt haben, von unter anderem diesen Amerikanern befreit zu werden. Schließlich schütteln wir den Kopf über die Fixierung der Amerikaner auf das Ökonomische. Wir sehen nicht, dass sich in einem Staat ohne dichtes soziales Netz jeder selbst über Wasser halten muss – durch Schufterei, Schulden oder Spekulation.
„Warum ändern die Amerikaner das nicht?“, fragen wir. Das ist meist nicht als Beginn einer offenen Diskussion gedacht, sondern rein rhetorisch gemeint. So sicher sind wir, dass unser System das bessere ist – genauso wie die Amerikaner. Auch sie sind störrisch und scheinbar unheilbar überzeugt, die beste Gesellschaft der Erde geschaffen zu haben. In Krisenzeiten zweifeln sie nicht an ihrem Wirtschaftssystem, ihrem maroden Sozialstaat oder den Waffengesetzen, sondern am Kitt, der die Gesellschaft der USA zusammenhält. Aber was ist das? „The business of America is business“, sagte Präsident Calvin Coolidge 1925. In der Tat zieht sich das Gewinnstreben wie ein roter Faden durch die US-Gesellschaft. Doch eine nationale Identität lässt auch der größte Profit und die höchsten Aktienkurse nicht entstehen, im Gegenteil verschärfen sie die Gegensätze zwischen Arm und Reich. Der US-Trendforscher Jeremy Rifkin hat darauf hingewiesen, dass die Marktwirtschaft erst funktionieren könne, wenn in der Gesellschaft Identität und Vertrauen bestehen. Nation-Building muss also vor dem Profit kommen.
Tradition, Politik und Wirtschaft begründen keinen „American Spirit“. Der Zusammenhalt der USA findet sich in anderen Formen, über die Europäer gern die Nase rümpfen: Die Kulturmaschine Hollywood liefert Vorlagen für eine amerikanische (und inzwischen globalisierte) Identität. Weil er die Macht der Bilder für die Politik erkannt hatte, richtete Senator McCarthy in den Fünfzigerjahren seine Suche nach „unamerikanischen Aktivitäten“ verstärkt auf Hollywood. Aber auch die Kulturindustrien für Pop, Lifestyle und Sport versorgen die USA mit den Mythen und Träumen, die ein nationales Bewusstsein erfordert. Der Kleister für das Rot-Weiß-Blau findet sich aber auch in der Uniformität von Schulen und Highways, in der immergleichen Architektur der Städte und von McDonald’s-Filialen, die in Florida aussehen wie in Alaska und standardisierte Hamburger anbieten.
Vor allem aber hält der Patriotismus dieses Land zusammen, das eigentlich ein Kontinent voller Individualisten ist. Das Sternenbanner ist eines der wenigen sichtbaren (und in der Nationalhymne auch hörbaren) Zeichen der Verbundenheit von 278 Millionen Menschen, die ansonsten von Interesse, Herkunft, Klasse, Rasse und Religion verschiedener kaum sein könnten. Die Fahne ist das allgemein anerkannte Symbol für die Zivilreligion, mit der die politischen Eliten der USA ihr Handeln erklären und verklären und sich der Zustimmung des Volkes versichern. Das Heilige dieses säkularen Landes ist die Gemeinschaft. Ihr Symbol ist die Fahne. Wer sie öffentlich verbrennt, zerstört für die meisten Amerikaner mehr als nur ein Stück Stoff, er greift den Zusammenhalt des gesamten Landes an. (Trotzdem ist das Verbrennen der Fahne als freie Meinungsäußerung höchstrichterlich erlaubt.)
Natürlich nutzen Politik und Militär der USA die Fahne für bornierten Hurrapatriotismus. Die Konzentration auf die eigene Gemeinschaft wird in den USA oft zum Tanz ums Goldene Kalb und verschleiert bewusst und unbewusst Probleme im eigenen Land und in der Welt. Das Wort von Heiner Geissler gilt auch jenseits des Atlantiks: „Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete.“ Trotzdem zeigen die Fahnen tragenden AmerikanerInnen in diesen Tagen mehr als Chauvinismus und die Sehnsucht nach Vergeltung. Das Sternenbanner als Identitätsmerkmal, als Wunsch und Wille, haben sich selbst die Kritiker und Aussteiger von den Konservativen nicht nehmen lassen: Peter Fonda trägt im Film „Easy Rider“ als ausgeflippter Hippie die amerikanische Fahne auf dem Helm und dem Tank seines Motorrads. Wie sehr diese Art, Flagge zu zeigen, in Deutschland auf Unverständnis stoßen muss, zeigt die Übertragung ins Deutsche. Man stelle sich vor: Dieter Kunzelmann und die Kommune 1, gewandet in Schwarz-Rot-Gold.
BERNHARD PÖTTER
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