einsatz in manhattan: Vom visuellen Umgang mit dem World Trade Center
Ästhetik der Abwesenheit
Fünf Tage vor dem 11. September eröffnete der deutsche Internetpionier Wolfgang Stähle „2001“, seine neueste Digitalbildinstallation für die New Yorker Postmasters Gallery. Neben Live-Videos, die den Berliner Fernsehturm und das mittelalterliche Kloster Comburg bei Stuttgart zeigten, konnte man gleichfalls eine drei mal sieben Meter große, sich stets verändernde Sicht auf die Südspitze Manhattans als Real-Time-Videoprojektion verfolgen. Stähle, der mit der Gleichzeitigkeit der Live-Videos zunächst die Idee physikalischer Anwesenheit, die Signifikanz von „Hier und Jetzt“ neu zu definieren suchte, wurde durch die Ereignisse des 11. September zum Dokumentarfilmer und Chronisten einer schmerzlichen Abwesenheit.
Das World Trade Center mag aus den Augen sein, aus dem Sinn ist es dafür nicht. Die Parolen „We will never forget“ und das Martin Luther King Jr. grob entlehnte „We will overcome“ prangen auf vielen Postern überall in der Stadt, wobei die beiden “l“ von „will“ jeweils der Silhouette der Twin Towers nachempfunden sind. Geografisch abwesend, aber im Kopf omnipräsent.
Ground Zero ist die offene Wunde der Stadt, der Nullpunkt im Koordinatensystem, der Fluchtpunkt, auf den die Gedanken über New York hinauslaufen. Warum sonst hätte die das WTC auf unheimliche, verschwommene Art zeigende Fotografie von Hiroshi Sugimoto aus dem Jahr 1997 bei Sotheby’s soeben 45.000 Dollar erzielt – weit mehr als das Doppelte des oberen Schätzwerts? Und in Sohos Prince Street bildet sich auf der Straße tagtäglich die einzige Schlange Manhattans vor einer Kunstausstellung, während alle Museen über massiven Besucherschwund klagen. Die Menschen kommen, um „Here is New York – A Democracy of Photographs“ zu sehen. Noch bis Weihnachten werden hier in zwei leer stehenden Geschäftsräumen ausschließlich anonyme Fotos gezeigt, die den 11. September thematisieren. Jeder darf Aufnahmen vorbeibringen, Digitalkopien werden für 25 Dollar verkauft, der Gesamterlös kommt einer Stiftung für die Kinder der Opfer zugute. Fassungslos stehen die Besucher vor hunderten von Bildern, die schreiende Menschen, brennende Hochhäuser und die staubüberzogenen Kleiderauslagen von Luxusgeschäften zeigen. Von der Prince Street sind es nur ein Dutzend Blocks bis zum Massengrab von Ground Zero, in der Warteschlange auf der Straße stinkt die Luft modrig und verbrannt. Die hohe Qualität der Fotos verdankt sich indes dem Umstand, dass am Vorabend der Katastrophe das Jahrestreffen der Magnum Agency, der weltweit größten Fotoagentur, in New York stattfand und damit die internationalen Starfotografen sofort vor Ort waren, das Ereignis zu dokumentieren.
Derweil wird das World Trade Center digital aus dem Vor- und Abspann verschiedener Fernsehserien entfernt, auch Zeitschriften und zahlreiche Firmenlogos verzichten ab sofort auf die Abbildung. Auf einer vom US Postal Service geplanten Briefmarke für 2002, „Greetings from NY“, wurde das WTC nach dem 11. September aus der Skyline genommen. Dagegen hält Chinatown, wo sich Poster einer intakten Südspitze Manhattans ebenso rasch verkaufen wie Baseballkäppis mit dem Motiv eines von US-amerikanischen Flaggen umsäumten, brennenden WTC.
Gegen die Tabuisierung der Türme hat sich vorerst auch das Queens Museum of Art entschlossen, das seit vielen Jahrzehnten ein stets aktualisiertes, fast 900 Quadratmeter großes Holzmodell von New York beherbergt. Die Museumsleitung hat jetzt eine elegant gewundene Schleife über die beiden Türme des WTC in den Nationalfarben Blau, Weiß und Rot legen lassen, um so der Tragödie gebührend gedenken zu können, ohne dabei die Hochhäuser entfernen zu müssen.
THOMAS GIRST
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