: Freie Fahrt mit freier Ferse
Akute Schuhknappheit herrscht beim großen Telemark-Festival, wo Freaks, Nostalgiker und Traditionalisten jener Skitechnik huldigen, die nach langem Dornröschenschlaf immer populärer und jetzt sogar bei Olympia in Utah demonstriert wird
aus dem Stubaital THOMAS BECKER
Wer zu spät kommt, den bestraft die Schuhausgabe. Telemark-Festival auf dem Stubaier Gletscher: „Ski, Schuhe und Bindungen zum Ausleihen, Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene, Workshops, Lawinen- und Freeride-Sicherheitstraining plus Showrennen“, hieß es in der Ankündigung zum bislang größten Telemark-Event im deutschsprachigen Raum. Ist auch alles da, auch noch vor prima Kulisse: blitzeblau der Himmel, neu und pulvrig der Schnee. Die Bergrettung rettet eindrucksvoll samt filmreifem Helicopter-Flug, Telemark-Skikurse ziehen im dekorativen Knickstil ihre Bögen, und das Rennen ist tatsächlich eine Show. Wenn nur das Schuhdrama nicht wäre: Wer zur Schlafmützenzeit vorstellig wird, hat die Auswahl zwischen unteren Damengrößen und Siebenmeilenstiefeln – alle Normalgrößen weg, schon in Betrieb. „Die sollen die Schuhe zwar nach ein paar Stunden zurückbringen“, sagt der Ausleiher, „aber das kannst du vergessen: Sonne, Schnee, Telemark – das ist viel zu geil, da kommt keiner zurück.“
Eine Sportart wacht auf. Die Nachfrage nach Alternativen zu Ski und Snowboard wächst; alles Mögliche und manches Unmögliche hat man mit diesen Spaßwerkzeugen ausprobiert, die Grenzen sind erreicht. Fehlt: ein neuer Kick. Telemark, die Skitechnik der freien Ferse, kommt gerade recht. Ein Sport, der zugleich exotisch und traditionell ist. 150 Jahre dauerte sein Dornröschenschlaf. Damals beschrieb der Schriftsteller Torjus Loupedalen die Entstehung der Bewegung im armen norwegischen Dörfchen Morgedal in der Region Telemark: „Es war aber nicht möglich, dass alle genug zu essen bekamen. Viele mussten betteln und zahlreiche Bewohner verließen die Region. Das Einzige, wofür die Gemeindeverantwortlichen letztlich sorgen konnten, war der Spaß. . . . Die Energie und der Bewegungsdrang der Leute musste einen Ausdruck, ein Ventil finden – und sie fanden es im Skifahren.“
Die Bewegung hat einen Helden: Sondre Ouversen Norheim, eine Art Franz Beckenbauer des Telemark. Heute wird Norheim mittels eines abgewandelten „Vater unser“ gehuldigt. Er gilt als der Erfinder der Technik, nutzte die Ski wie alle anderen nicht nur zur Fortbewegung, sondern zum Spaß: sprang wie ein Verrückter über Dächer und Schanzen, so dass man schon an seinem Verstand zweifelte. Auch eine Heirat ließ ihn nicht erwachsen werden, berichtet Loupedalen: „Doch draußen riefen nach ihm die Berge – und er musste ihnen antworten.“ Logisch, dass er die ersten Wettkämpfe gewann, eine Mischung aus Sprung, Crosscountry, Abfahrt und Slalom. Die Presse jubelte: „Er hatte einen so bemerkenswerten Skistil, dass man dachte, er wäre nur für das Skifahren geboren, denn er bewegte sich auf seinen Ski auf eine sehr natürliche Art und Weise: mit seinem Skistock, den er wie einen Spazierstock in einer Hand hielt, und mit seiner Mütze in der anderen.“ Auch klar, dass er die erste Skischule gründete und die Skiherstellung revolutionierte: Sein Kiefernholz-Ski war bereits tailliert – praktisch der erste Carver. Ende des 19. Jahrhunderts wanderte er nach Amerika aus und missionierte dort weiter in Sachen Telemark.
Gut 70 Jahre nach seinem Tod schwappte die Welle Anfang der Siebziger zurück von der Neuen in die Alte Welt: Telemark wurde zunächst in Skandinavien und zuletzt immer mehr auch in den europäischen Alpen „in“. Eine ständig wachsende, chronisch gut gelaunte Familie aus Nostalgikern, Freaks, Traditionalisten, Rennfahrern und Naturfreunden findet Gefallen an dem geschmeidigen Kniefall mit freier Ferse. Trendsportler wie die Snowboarder wollen sie gar nicht sein. Ihr Credo: Free your heel and your mind will follow. Die obersten Skilehrer haben den Schwung in den Lehrplan aufgenommen; in Deutschland, Frankreich, Slowenien und der Schweiz gibt es Telemark-Nationalteams, die an einer Weltcup-Serie teilnehmen. Bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City ist Telemark Demonstrationswettbewerb. An den letzten Deutschen Meisterschaften nahmen schon 250 Freifersler teil.
Auch im Stubaital gab’s dann irgendwann doch noch ein Paar Schuhe in Normalgröße – wenigstens fast. Egal, auch mit eingequetschten Zehen hat man den Bogen schnell raus und ist bald nicht mehr weit weg von der alten Erkenntnis: „Ein Telemark in gutem Pulverschnee ist ungefähr das, was im Himmel die Seligkeit ist.“
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