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Lyra, Liebe und philosophische Lehre

Kannibalismus, kontrollierte Frivolität, die Verstrickung zwischen Erster und Dritter Welt: Das zünftige, köstliche und durchaus erlebnisreiche „Gelage für Langschweine“ unter der Regie von Helena Waldmann im Podewil

Odysseus hat sich schick gemacht. Über dem schillernden Glitzeranzug trägt er ein Camouflage-Regencape, an der Leine führt er ein vietnamesisches Hängebauchschwein. Doch der Held ist entsetzt. Er deutet auf seine haarige Begleitung und schreit, das wäre sein Freund, von Circe in ein Schwein verwandelt.

Die Berliner Regisseurin Helena Waldmann inszeniert ihr „Gelage für Langschweine“ als bösartiges „Erlebnis-Theater“. Und das kann erst einmal richtig schön sein: Man wird am Eingang von einem „Führer“ abgeholt, geht über Hintertreppen durch dunkle Korridore und soll dicht beieinander bleiben. Dann sitzt man in einem Stuhl mit Rädern unten dran und rollt eine Rampe herunter.

Die Bühne gibt es nicht, dafür aber einen Drink in die Hand, rosafarbener Absinth, von Circe persönlich. Man darf essen, ja mal soll essen – die Kochkünstler vom „labor für angewandte alltagsliebe“ überraschen mit Spanferkel, Oliven und Fischsuppe –, man soll trinken (einen Cabernet aus dem Barrique) und sich dabei natürlich wohl fühlen. Doch Vorsicht ist geboten – das „Gelage für Langschweine“ ist nur zum Schein eine Wellness-Veranstaltung.

Denn besagte „Langschweine“ sind wir, die Menschen, in der Sprache der Menschenfresser. Während man das vom Spieß tranchierte Spanferkel verzehrt, redet Circe vom Kannibalismus. Das schockiert oder auch nicht, je nach persönlichem Gusto. Man isst und schweigt. Auffallend: die kontrollierte Frivolität der mageren, hexenhaft schönen Circe (Elke Czischek). Lässig wie ein Trash-Movie-Girl, wie Tank-Girl oder Queen Latifah stakst die Herrin der Insel in Glitzerjeans, Pailletten-Top und Westernstiefeln durch das Publikum. Sie schreit Odysseus (Adnan Maral) an. Es geht um „Asylrecht“ und „heiliges Gastrecht“. Monitore zeigen das Meer.

Helena Waldmann zeigt ein wildes Schauspiel, das sich bemüht, nur noch minimal im Bereich des Rationalen zu operieren. Zwei Darsteller, zwei Kochkünstler, und die Zuschauer agieren gemeinsam in ihrem theatralen Raum, zu dem Video und Musik ebenso gehören wie das Schwein an der Rampe, der Wein und das Essen. Sinnlich will das „Gelage für Langschweine“ sein. Es greift auf die Idee des antiken Symposions zurück, jenes festlichen Gastmahls, das den kulinarischen Genuss mit Lyra, Liebe und philosophischer Lehre verband.

Waldmann, die in den Neunzigern durch ihre Tanztheaterinszenierungen „Forschung auf dem Feld der Blicke“ in Frankfurt am Main auffiel und dieses Jahr am Luzerntheater Michel Houllebecqs Roman „Ausweitung der Kampfzone“ inszenierte, will nicht mit Schönheit beruhigen.

Im Gegenteil: Die homerische „Odyssee“ dient ihr als Folie, auf der sie die Verstrickung zwischen „erster“ und „dritter“ Welt, zwischen „Zivilisation“ und dem „Rest“, zwischen blonder Europäerin und schwarz gelocktem Araber thematisiert. Circe nimmt den umherirrenden Odysseus bei sich auf, gibt ihm Fleisch und gängelt ihn. Sie ist die gelangweilte Herrin, er der naive Gastgefangene, und beide liefern sich zynische Wortgefechte. Odysseus mutiert in Waldmanns Meditation über Passpflicht und Menschenrechte auch zum Menschenschlepper, der die heimatlosen Flüchtlinge ins „Schlaraffenland“ führt. Dazwischen wird gegessen, köstliche Fischsuppe an langen Tischen.

Das „Gelage“ ist ein politisch aufgeladener Punk-Pop-Remix der antiken Saga vom Umhergetriebensein. Mit einem durchaus aktuellem Bezug zur Frage der Toleranz dem „Fremden“ gegenüber. Der Zuschauer, Suppe löffelnd und Wein trinkend, soll diese Spannung aushalten. Am Ende schaut er ein wenig ratlos.

JANA SITTNICK

„Gelage für Langschweine“, noch heute, 21 Uhr, im Podewil, Klosterstraße 68, Mitte

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