: Abseiter und andere Wahnwitze
Das Recht auf Differenz und die zur Band gewordene Berliner Ökonomie: Stereo Total mit ihrem neuen Album „Musique Automatique“ auf Tour
Es war mal wieder so ein Abend; ja, man könnte sagen: ein typischer Kreuzberger Abend. Die Leute, die Location, der Anlass. Françoise Cactus hatte zu einer Vernissage in die Galerie Katze geladen, wo sie zusammen mit dem amerikanischen Künstler Stu Mead erstmals eigene Bilder präsentierte. Irgendwo zwischen Pop-Art, Sex-Art und naiver Malerei angesiedelte Bilder.
Im Eingang ein Schild, das darauf hinweist, dass hier auch Wolfgang Müllers „privates Goethe-Institut“ einen Sitz hat; oben die Gäste, die Bier kaufen und reden, Leute wie die Künstlerinnen Käthe Kruse oder Evelin oder Musiker von den Zen-Faschisten oder des Jeans Teams; und unten im Ausstellungsraum, einem zweiräumigen Keller, gab es umjubelte Auftritte von Stereo Total, Doc Schoko und den wahnwitzigen Cobra Killers. Zwischendrin legte Brezel Göring Platten von Suicide, Golden Showers und anderen Abseitern auf. Ein schöner Abend, eine eigenartige, aber sympathische Gesellschaft mit sehr eigener Moral, eine seltsame, fremde Welt jenseits von Hackeschen Höfen und Berliner Seiten; eine Welt nun, die genauso konstituiv für die Berliner Band Stereo Total ist, wie umgekehrt Stereo Total einen nicht geringen Anteil an ihrem Bestehen haben.
Stereo Total sind die Musikerin, Schriftstellerin und Malerin Françoise Cactus und der Instrumentenbauer, Multiinstrumentalist und Religionswissenschaftler Brezel Göring. In ihrer Musik und ihrer Geschichte finden sich noch die Spuren der alten Berliner Schule, der Berliner Dilettanten, von Bands wie Die tödliche Doris über Malaria bis zu Die Unbekannten. Und sie verbinden die Kunstkeller Kreuzbergs mit den Clubs und Wohnzimmern in Mitte und Prenzlauer Berg, wo sie das Leben durch ihre Anwesenheit, ihre Plattensammlungen und ihre Musik nicht wenig mitbeeinflusst haben.
Stereo Total sind sozusagen die Band gewordene Berliner Ökonomie, eine Band, die sich durchzuwurschteln weiß. Sie sind aber auch ein nicht unwichtiger Teil eines internationalen Underground, der sich von den USA über Russland bis Japan zieht. Nicht von ungefähr haben sie deswegen auch schon eine Unzahl von Zuschreibungen über sich ergehen lassen müssen – ohne dass ihnen das allerdings geschadet hätte oder sie sich dadurch gestört fühlten.
Als Brezel Göring und Françoise Cactus sich 1993 kennen lernten, kurze Zeit später Stereo Total gründeten und ihr erstes Album „Ah Oh Ah“ herausbrachten, wurden sie mit Kusshand in der Welt des Easy Listening willkommen geheißen. Es war die Zeit, als man sich über die Folgenlosigkeit und die Doppelmoral von Easy Listening stritt, als sich die alten Antagonismen von Mainstream und Subkultur aufzulösen begannen. „Ah Oh Ah“ passte beim ersten Hören einfach zu gut mit seiner Mischung aus französischen Chansons, alten Discoknallern und deutschem Underground. Doch beim genaueren Hinhören merkte man, wie Brezel Göring die flauschigen Retrosounds eher zerstörte als resynthetisierte, verstand man, warum Cactus sagte: „Wir vergreifen uns an 1.000 Stilen und machen irgendwelchen Scheiß damit.“ Incredible strange statt easy, brandnew statt retro.
Mit ihren nächsten Produktionen liefen Stereo Total dann wahlweise unter Chanson, Schlager, Easy, Strange, Euro, Lo-Fi oder Koma, was zur Folge hatte, dass bei ihrem 99er-Album „My melodys“ die Luft etwas raus war. Weniger, weil Stereo Total das so ging, sondern weil die Zuneigung von außen geringer zu werden schien: Die Novelty-Effekte waren weg, das Kaputte und Charmante irgendwie genug.
Nun ist es selbstverständlich nicht so, dass das neue Album „Musique Automatique“ Stereo Total auf Abwegen sieht. Dass Brezel Göring und Françoise Cactus ihre musikalischen Vorlieben total über den Haufen geschmissen oder ihren Sound revolutioniert hätten. Sie covern Songs von Charles Trenet, von Lio, der Tödlichen Doris oder Deo; sie formen sie um, integrieren sie in ihren Kosmos, schreiben eigene Songs. Alle mal mehr, mal weniger zugänglich, doch immer so schön, dass man denkt: Hitmaschine Stereo Total. Richtig neu ist, dass Stereo Total ihre Lo-Fi-Manierismen abgelegt haben und sich in die Obhut des Elektronikproduzenten Cem Oral begeben haben: „Musique automatique“ ist transparent und an manchen Stellen gar richtig fett, ohne dass Stereo Total die Seele aus den Songs produziert wurde. Einmal mehr merkt man dem Album auch an, dass Strategien nie die Sache von Stereo Total waren, die Welt von MTV und neuem Pop nie die ihre ist und sein wird. Und, was nicht unwichtig ist bei der vielen guten Musik, die zum Beispiel aus Berlin so kommt, die aber kein Ziel kennt, außer gut zu sein: Stereo Total künden von einem altmodischen „Nichteinverstandensein“ mit den Verhältnissen, ohne sich von diesen beirren zu lassen – ein Wichtigwichtig-Diskurs über Afghanistan oder grüne Politik kontern sie dann doch lieber mit „Liebe zu Dritt“.
Weltveränderung: nein, Weltverbesserung: ja. Stereo Total pochen lieber auf ihr Recht, anders zu sein, auf eine Crazyness, die es nicht im Dutzend billiger an jeder Ecke und in jeder Fernsehshow gibt, die mit dem Kultur- und Medienbetrieb, wie wir ihn kennen, nichts zu tun hat. Man kann auch sagen: Stereo Total sind die letzten, echten Bohemiens. GERRIT BARTELS
Stereo Total: „Musique Automatique“ (Bungalow/Labels/Virgin), Tourdaten: 21. 11. Dresden, 22. 11. Leipzig, 23. 11. München, 28. 11. Erlangen, 29. 11. Stuttgart, 4. 12. Frankfurt, 5. 12. Duisburg, 6. 12. Köln, 7. 12. Braunschweig, 8. 12. Bremen, 9. 12. Hamburg
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