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Ende der Hierarchien

Mit einer Setzliste aus dem vergangenen Jahrhundert werden heute die Gruppen für die Fußball-WM ausgelost, einen Anachronismus mit Zukunft

von MATTI LIESKE

Wenn heute im koreanischen Pusan die Gruppen für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgelost werden, die vom 31. Mai bis 30. Juni 2002 in Japan und Südkorea stattfindet, entsteht dort ein sorgsam ausgetüfteltes Kaleidoskop des Weltfußballs. Nach überaus komplizierten Regeln werden die 32 besten Nationalmannschaften des globalisierten Kickerwesens in acht Gruppen delegiert, auf dass nicht die stärksten bereits zu Anfang aufeinander treffen, geografische Ausgewogenheit gewährleistet ist und beide Veranstalterländer gleichermaßen attraktive Spiele erhalten.

Wie war das doch gleich? Die 32 Besten? Mitnichten, wird da vor allem die europäische Funktionärsgilde traditionsgemäß schreien. Die Besten, das sind doch wir, und vielleicht noch ein paar Südamerikaner. Dann werden sie anheben, von Exoten zu schwadronieren und darüber zu lamentieren, dass Europa nur noch läppische 14 Teams entsenden darf.

In alter Herrlichkeit

Die Realität ist eine andere. Auch wenn beim letzten Weltturnier 1998 in Frankreich die Vertreter aus Asien und Afrika spätestens im Achtelfinale auf der Strecke blieben – was weniger minderem fußballerischem Können als eher einem Mangel an Ausgebufftheit zuzuschreiben war –, sind die alten Hierarchien des 20. Jahrhunderts endgültig zerbrochen. Sie spiegeln sich allenfalls noch in der Setzliste für die Auslosung wieder, wo Mannschaften wie Brasilien oder Deutschland (sic!), die um ein Haar in der Qualifikation hängen geblieben wären, in alter Herrlichkeit als Gruppenköpfe repräsentiert sind und so zumindest in der Vorrunde die vermeintlich dicksten Brocken umgehen können. Doch wer würde heute, da Brasilien vor Venezuela zittert, Deutschland gegen die Finnen patzt, Irland die Niederlande abserviert, Bahrain den Iran stolpern lässt und Liberia um ein Haar Nigeria den Weg zur WM versperrt, allen Ernstes behaupten, dass etwa der Senegal chancenlos wäre gegen Italien, Tunesien gegen Schweden, Kamerun gegen Frankreich, Costa Rica gegen Kroatien oder die USA gegen Deutschland. Und ob die daheim gebliebenen Niederlande tatsächlich eine größere Bereicherung des Turniers gewesen wäre als, sagen wir, China, hätte sich auch erst erweisen müssen.

Fußball gehört den Klubs

Die weltweite Nivellierung des fußballerischen Niveaus ist augenfällig; worauf die Europäer zu Recht noch verweisen können, ist, dass es ihre Ligen sind, welche die Basis des Ganzen bilden. Die Leistungsträger der meisten für die WM qualifizierten Teams spielen in Europa, ein Segen für die dortigen Klubs, ein Fluch für die Nationalmannschaften der starken Ligen, die an Qualität und an Bedeutung verlieren. Arsenal-Trainer Arsène Wenger sagte einmal, dass er schon lange keine Länderspiele mehr anschauen würde, weil das Niveau dort kläglich sei im Vergleich zu den Spitzenspielen des Vereinsfußballs. Seine Kollegen scheinen dies ähnlich zu sehen, nicht nur in Deutschland wird es immer schwieriger, wirklich renommierte und fähige Trainer für das Amt des Nationaltrainers zu begeistern.

Die Vereinsvertreter zetern derweil über die elende Qualifikation mit den lästigen Spielerabstellungen, die sie mit allen Winkelzügen zu hintertreiben suchen, und feinden jedes Freundschafts-Länderspiel giftig an. Franz Beckenbauer fordert schon forsch eine Qualifikationsbefreiung für jene Teams, die nach seiner werten, in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts geprägten Meinung zu den Großen gehören, und Brasiliens Schwierigkeiten waren zu einem nicht geringen Teil dem Umstand geschuldet, dass Europas Spitzenklubs jede intensive Vorbereitung auf die Qualifikationsspiele hintertrieben. Erst wenn eine große Meisterschaft näher rückt, gewinnen die Länderteams wieder an Bedeutung, die Profis rackern um ihre Nominierung und die Nation stimmt sich ein auf das Mega-Event des Sommers. Glücklich, wer dabei sein darf, was diesmal im besonderen Maße für die Mannschaft des DFB gilt, nach ihrem haarsträubenden Relegationskraftakt gegen die Ukraine.

Nationalteams sind geprägt von den Ligen, in denen ihre Spieler aktiv sind, und da ist die deutsche Wirklichkeit im Vergleich zu der anderer Länder eine ziemlich desperate. Weder werden deutsche Spieler exportiert, da sie für die starken Ligen in Spanien und Italien zu schwach sind, noch importiert man internationale Superstars, die – bis auf wenige Ausnahmen wie Rosicky oder Marcelinho – aus finanziellen und sportlichen Gründen einen großen Bogen um die Bundesliga machen. Diese war jahrelang eine Art Biotop, in dem man vor allem taktisch der internationalen Entwicklung hinterherhinkte, der eine Verein mehr, der andere weniger. Bei der Europameisterschaft 2000 fiel auf, dass Teams wie etwa Rumänien, Jugoslawien oder auch Slowenien ungemein homogen auftraten, obwohl die Spieler über ganz Europa verstreut ihrem Metier nachgehen. Jeder wusste dennoch genau, was er auf dem Feld zu tun hatte, weil er in einem modernen System einfach die Position spielte, die er auch im Klub bekleidete. Die deutsche Mannschaft von Erich Ribbeck war dagegen der reinste Hühnerhaufen, weil es in der Bundesliga an einem einheitlichen System mangelte und die desorientierten Spieler plötzlich ganz andere Aufgaben erfüllen sollten als im Verein, ohne die nötige Zeit zur Einübung zu bekommen.

Bayern als Anti-Modell

Mit Teamchef Rudi Völler wurde dies eklatant besser, das Grundproblem aber bleibt. Auch heute ist Bayer Leverkusen die einzige Mannschaft, die wirklich fortschrittlichen Fußball in der Bundesliga spielt, während sich zum Beispiel die Münchner Bayern mit einer Form von taktischem Destruktivismus ihre nationalen und internationalen Erfolge erarbeiten, wie ihn einst schon Ernst Happels HSV gegen Platinis Juventus Turin oder Steaua Bukarest gegen den FC Barcelona einsetzte. Das ist schlau und verdient Anerkennung, ein Modell für die Zukunft ist es nicht. Erheblich vielversprechender scheint da der Weg der Leverkusener, die es immerhin geschafft haben, eine Hand voll deutscher Nationalspieler effektvoll mit Stars aus dem Ausland zu einer Einheit zu verschmelzen, während bei den Bayern gelegentlich Oliver Kahn der einzige deutsche Akteur im Team ist. Ob der verbalpatriotische Versuch der Münchner, mit Deisler und Ballack das nationale Element wieder zu stärken, erfolgreich verlaufen wird, darf getrost bezweifelt werden. Wenn sich die Bayern auf Dauer in Europas Spitze etablieren wollen, werden sie nicht umhinkönnen, genau für diese Schlüsselpositionen mindestens einen echten Weltstar zu verpflichten.

Es bleibt das Problem, dass das Niveau in der Bundesliga stagniert. Liverpools Markus Babbel etwa berichtete vom Entsetzen seiner englischen Kollegen beim Betrachten durchschnittlicher tempoarmer Bundesligapartien und musste einräumen, dies sei meistens so. Hinzu kommt, dass eine Fülle ausländischen Mittelmaßes die Spielmöglichkeiten des Nachwuchses begrenzt. Das ist sogar in Italien oder Spanien anders. Dort wird zwar ungeheuer viel Geld in Superstars investiert, die restlichen Plätze füllt man aber gern mit einheimischen Profis auf, so dass der Ausländeranteil in der Liga insgesamt erheblich geringer ist als in der Bundesliga.

Genug Platz für Talente

Die von den hiesigen Funktionären gern als Ausrede gebrauchte Präsenz ausländischer Fußballer taugt jedoch nur bedingt als Erklärung für die Dürre im Nachwuchsbereich. Schließlich sind immer noch etwa 50 Prozent der in der Bundesliga eingesetzten Spieler deutscher Herkunft. Wahrhaftig genug Raum für die Integration von außerordentlichen Talenten. Hier kommt jedoch ein Mentalitätsunterschied zum Tragen. Während in England, Spanien, Italien, Frankreich, Portugal gute junge Spieler sofort ins kalte Wasser geworfen werden, setzt man in Deutschland lieber auf erfahrene Leute und spricht ständig davon, dass junge Akteure langsam aufgebaut werden müssten, sprich: Jahre auf der Bank verbringen oder in Amateurteams spielen, ohne die ungeheuer wichtige Spielpraxis auf hohem Niveau zu bekommen. Vielversprechende und im DFB-Team perspektivisch dringend benötigte Abwehrkräfte wie Zepek in Leverkusen oder Lapaczinski in Berlin liegen weitgehend brach, und selbst Leute wie Deisler oder Ballack sind schon relativ alt, wenn ihnen der Durchbruch gelingt. Ließ zum Beispiel Hertha-Trainer Jürgen Röber den damals 20-jährigen Deisler ein paar Mal hintereinander durchspielen, bekam er sofort den Vorwurf zu hören, er würde ihn „verheizen“, ein Begriff, den es in anderen Sprachen gar nicht gibt. Dabei zeigen die Beispiele aus Freiburg oder Stuttgart, wo man Mut zeigt und sich außerdem nicht leisten kann, auf den begabten Nachwuchs zu verzichten, wie schnell Fußballer reifen können, wenn ihnen entsprechendes Vertrauen geschenkt wird.

Die optimistischen Prognosen für die Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Lande klingen angesichts der Situation jedenfalls arg nach dem Pfeifen im Walde. Mannschaften, die Weltmeister werden, haben in der Regel ein Durchschnittsalter von 27 bis 28 Jahren. Das bedeutet, dass die Spieler heute eigentlich schon da sein und im Sommer in Japan und Südkorea die Grundlagen für einen Erfolg viereinhalb Jahre später legen müssten. Davon ist wenig zu sehen, und so wird es wohl auch 2006 wie bei der heutigen Auslosung heißen: Dabei sein ist alles. Übrigens: Brasilien wird Weltmeister.

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