: Lebenswert liebenswert
Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (6): In einer auf Jugend getrimmten Gesellschaft ist an die Stelle von menschlicher Betreuung ein ökonomisches Altenmanagement getreten, das weder Höflichkeit noch Taktgefühl oder Scham kennt
■ Alter bedeutet in unserer modernen Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, einen Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird
von PETER FUCHS und JÖRG MUSSMANN
In unserer Serie kam es nicht darauf an, gravierende Pflegemängel (also die Unterversorgung der Körper) zu geißeln. In Artikeln der regionalen und überregionalen Presse wird von Furcht erregenden Pflegeskandalen berichtet. Es ist wahr, dergleichen kommt vor, nicht einmal selten, wie man weiß, aber es ist der vergleichsweise unproblematische Fall von Verfehlungen, die sich verfolgen und ahnden lassen, wenn sie entdeckt werden. Es gibt die Heimaufsichten, und Heime können tatsächlich geschlossen, ihre Bewohner verlegt werden in andere Heime, in denen die Körper weniger vernachlässigt werden. Und wir wollen annehmen, dass die Heimaufsicht ihre Arbeit richtig und sorgfältig tut. Wenn sie sich in Pflegeeinrichtungen anmeldet, bewirkt sie durch ebendiese Anmeldung selbst denkbar hektische Aktivität.
Kürzlich hat allerdings der Bundestag das Qualitätssicherungsgesetz verabschiedet. Man kann jetzt wissen, dass vorherige Anmeldung nicht mehr notwendig ist. Sogar nachts könnten die Prüfdienste über die Korridore spazieren. Das ist alarmierend und zwingt dazu, das Pflegepersonal für den Ernstfall mit Kenntnissen über Rhetorik und Diplomatie auszustatten und außerem die Pflegekonzepte noch blendender zu gestalten, die Leitbilder noch mehr aufzuputzen, um beunruhigten Kunden Zweifel nehmen zu können. Denn die detaillierten Ergebnisse der Prüfoperationen bleiben weiterhin (und zum Nutzen der Einrichtungen) geheim.
Die Vernachlässigung des Körpers jedenfalls (diese kleine Hölle, die die letzten Lebensjahre in Heimen auch bereithalten können) ist nicht unser zentraler Punkt. Es gibt die große Hölle der gestohlenen Zeit, die zusammenschnurrt auf die Zeit der Ausübung von Pflegeoperationen, eine hastige Zeit, die paradoxerweise dann die lange Zeit, die Langeweile aus sich entlässt, die zwischen Darmentleerungs-, Essens- und Schlafenszeiten liegt, die Zeit des Dahindämmerns, des Wartens auf geringfügigste Abwechslungen, die Zeit des unentwegten Serviettenfaltens, des Löcher-in-der-Wand-Zählens, der leer laufenden Unruhe.
Die Ursache dafür ist leicht zu benennen und schwer zu verstehen. Die Erfüllung der Zeit wird nicht bezahlt, sie lässt sich nicht rechnen. Sie lässt sich nicht auf Zeitquantitäten zurückführen, die passende Zahlungen auslösen. Erfüllte Zeit ist in dieser Hinsicht nicht effizient. Für die Ökonomie ist sie entropisch, also ein Ordnungsproblem. Hat der Pfleger, der mit einer alten Dame über ihre Wetterfühligkeit spricht, gearbeitet? Oder nicht? Wird er dafür bezahlt, dass er dies tut, oder kann er es nur schlechten Gewissens tun, weil in nächsten Räumen nächste Körper warten, die versorgt werden müssen, wofür er dann eigentlich bezahlt wird?
Offenbar ist der zweite Fall der Normalfall. Das System erzeugt sich Körperversorgungsmutanten, wo es eigentlich hoch bezahlte SpezialistInnen für die Versorgung des Bewusstseins mit Irritationen benötigen würde, SpezialistInnen, die auch die Körper pflegen, beiläufig, wie man sagen könnte, wenn es einem auf Prioritäten ankäme. Spezialisiert wären diese Leute (und deswegen dürfte es sich nicht um einen billigen Berufsstand handeln) auf das Selbstverständliche im Umgang mit Menschen, auf Höflichkeit, Takt, Scham, Gewaltvermeidung, auf Kommunikation, die nicht technisiert, nicht defektologisch organisiert ist.
Seltsam (und das ist das schwer Verstehbare) ist es, dass wir im Moment nicht nur über das reden, was der Fall ist, sondern über das, was für viele von uns der Fall sein wird, schneller übrigens, als man unter den Auspizien einer unentwegt dahersimulierten Jugendkultur vermeinen möchte, wenn morgen nicht, dann aber übermorgen. Man sollte erwarten, dass diese Aussicht (die allerdings typisch versperrt ist), diese Antizipation so viel Angst machen müsste, dass schnell, ganz schnell gesellschaftliche Ressourcen umgelenkt werden auf die Ermöglichung eines beraubungsfreien Alters, auf die Erzeugung einer Kultur des Alterns, durch die Inklusion aufrechterhalten wird, Exklusion weitgehend minimiert wird. Wir geben Habermas ausdrücklich Recht, wenn wir fordern, dass selbst bei den schwierigsten Pflegefällen eine Person hinter der Person unterstellt werden muss, die leidens- und glücksfähig ist.
Das sind allerdings hehre Forderungen, die blitzschnell daran scheitern, dass die Pflegeeinrichtungen ebenso wie die meisten sozialen Einrichtungen dieser Gesellschaft ihren Kopplungsfavoriten gewechselt haben. Traditionen der Wohlfahrt, der Humanität, der Nächstenliebe, der zivilen Wertschätzung des Individuums sind ausgetauscht worden gegen die Ökonomie, gegen eine Spezialrationalität, die – erstaunlich genug – klaren Kopfes gefeiert wird, wofür dann sogar Studiengänge einstehen wie Sozialmanagement, Sozialökonomie, Sozialinformatik. Die Dinge müssen sich rechnen, und zu diesem überaus einfachem Satz ist Querdenkerei kaum noch zugelassen, etwa die Frage: Wer sagt das? Welche Motive hat er dafür? Und warum sagt er nicht: Die Dinge müssen sich lohnen? Das alte (überaus harmlose) Credo lautet: Wenn sich die Dinge rechnen, geht es allen in Maßen gut. Denkwürdig ist nur, dass sich dafür keine empirische Bestätigung findet, weltweit nicht, zu keiner Zeit. Wie wäre es, wenn man sagte, dass die Dinge sich nicht rechnen müssen, dass sie sich allenfalls immer für irgendjemanden rechnen, dem man auf die Finger schauen sollte? Wie wäre es denn, wenn sich die Verhältnisse für die alten Menschen rechnen würden?
Das Gegenargument liegt auf der Hand: Wie kann man wissen, was das Beste für den ist, der sich nicht mehr oder nur schwer verständlich äußert? Die leicht verschobene Antwort ist: Niemand kann das wissen, zumindest niemand allein. Und schon gar nicht Leute unter dem Druck der Körperbewirtschaftungszeit. Und eine zweite Antwort ist: dass man es gar nicht zu wissen braucht, weil es selbstverständlich ist, dass die Leute (ob jung, ob alt) Respekt benötigen, Takt, Wertschätzung, Kommunikation – und Zeit, die nicht eingeschnürt ist auf die Bewandtnisse problematischer Körper.
Was kann man tun? Radikal denken und wie die Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen in Heimen“ an der Universität Bielefeld (und ihr assoziierter ForscherInnen) das Ende der Heime selbst fordern, die zu sich selbst reproduzierenden Wirtschaftseinheiten werden, die exklusiv fungieren im eigentlichen Wortsinn des Ausschließens. Es wäre ein würdiges Riesenwerk, in dieser Gesellschaft auf einer Bandbreite zwischen Wohngemeinschaft und persönlichen Assistenzen, zwischen forcierter ambulanter Betreuung und dezentralem betreutem Wohnen (und Pflegen) ein Altern möglich zu machen, das aller Ehren wert, also lebens- und liebenswürdig wäre.
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