: Verständnis lernen mit gefüllten Blätterteigtaschen
Auf einer internationalen Konferenz diskutierten Lehrer darüber, wie man Kindern Toleranz beibringen kann. Ein Versuch: Transnationale Lernbücher
Für die Grundschüler in New York City war es der dritte Schultag nach den Ferien. „Ein klarer, sonniger Tag“, erzählt Catalina Fortini von der amerikanischen Lehrervereinigung United Federation of Teachers (UFT). Dann schlugen die Flugzeuge ein. „Ein Kind fragte: Warum ist Superman nicht gekommen, um die Türme festzuhalten?“ Patricia und Steve nicken ernst. Plötzlich wird die Bedrohung des 11. Septembers wieder spürbar, inmitten der Lehrerrunde im nüchternen Konferenzraum in Potsdam, irgendwo über Streuselkuchen und Orangensaft.
Die Terroranschläge warfen am Wochenende noch deutliche Schatten über die internationale Lehrerkonferenz in Potsdam, auf der alle Diskussionen und Arbeitsgruppen um eine Frage kreisten: Wie bringe ich Kindern in Schule und Kindergarten Toleranz bei? Das Thema sei „aktueller als je zuvor“, sagte Eva-Maria Stange, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bei der Eröffnung der gemeinsamen Veranstaltung der GEW und ihres amerikanischen Pendants, der American Federation of Teachers (AFT).
Doch es blieb nicht bei Erfahrungsberichten, wie ihn die New Yorker Lehrerin Fortini lieferte. Sanem Kleff etwa, die sich bei der GEW um multikulturelle Angelegenheiten kümmert, steht ein paar Räume weiter vor zwölf schallplattengroßen Ringbüchern. Von jedem Titelbild lächelt ein anderes Kind, auf jedem steht dessen Vorname. Das Projekt „Das bin ich“, gefördert mit 1,2 Millionen Mark EU-Mitteln, stelle erstmals „transnationales Unterrichtsmaterial“ bereit, so Kleff. Jedes Buch erzählt eine Geschichte aus dem Leben eines Kindes, in der Mehrzahl haben sie immigrierte Eltern. Behandelt werden Erfahrungen, die jeder schon gemacht hat – etwa die Angst vor der ersten Übernachtung in einem fremden Haus. „Wenn die Erzieherin die Geschichte vorliest, entdecken die Kinder Gemeinsamkeiten mit den Hauptfiguren – auch wenn diese fremd aussehen“, sagt Kleff. Neben diesem Wiedererkennungseffekt hofft sie, mit Details Interesse zu wecken. Wenn etwa der sechsjährige Türke Yunus ein „Börek“ isst, steht im Text dahinter die Erklärung (Blätterteigtasche mit Käsefüllung) – erst für die Erzieher, dann für alle nichttürkischen Kinder.
In den nächsten Wochen sollen die ersten Lernpakete mit Musik-CD und Ideenbuch für Erzieher an Kindergärten in den vier Projektländern Niederlande, Luxemburg, Dänemark und Deutschland verschickt werden.
Der Ansatz, schon vor der Schule Verständnis für andere Kulturen zu wecken, scheint notwendig. Das zeigt eine Studie über Ausländerfeindlichkeit an deutschen Hochschulen, die der World University Service (WUS) erstellt hat, ein weltweiter Zusammenschluss von Studierenden und Lehrenden. Über 1.000 ausländische Studierende gaben in Fragebögen Auskunft, die Ergebnisse sind laut Nils Rosemann vom WUS „erschreckend“. Jeder sechste habe Gewalterfahrungen gemacht – von Pöbeleien bis zu schwerer Körperverletzung. Besonders betroffen seien Mittel- und Osteuropäer sowie Afrikaner. Die Studie bestätigt das Klischee des fremdenfeindlichen Ostens – auch an den Unis. Fast die Hälfte der Gewalterfahrungen meldeten Studierende aus den neuen Bundesländern, obwohl nur knapp 20 Prozent der Befragten dort studieren.
Laut Rosemann ist Rassismus auch in der hochdotierten Professorenschaft nichts Ungewöhnliches. Ein brasilianischer Student notierte auf dem Fragebogen ein Erlebnis aus einer Mathematikvorlesung. Die Lehrkraft habe ihn vom Pult her abgekanzelt: „In Ihrer Heimat tanzt man ja auch lieber Samba, anstatt abstrakt denken zu lernen.“
Offensichtlich hat GEW-Chefin Stange – auch jenseits des 11. Septembers – mit dem Satz aus ihrer Eröffnungsrede Recht: Das Thema „Toleranz lernen“ ist aktueller denn je. ULRICH SCHULTE
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