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Ostfriesen sind doch die größten Simulanten

■ Mit Platzwunden, Messerstichen und abgetrennten Körperteilen kennt sich im Nordwesten niemand besser aus als das Team vom Jugendrotkreuz Jeverland.

Die Armteile und die Knochensplitter aus den Vereinigten Staaten sind von besonders hoher Qualität. Das Blut aus Holland ist hingegen nicht so gut. Andreas Folkers gibt ein paar Tropfen auf ein Stück Küchenrolle. In der Tat: Gar nicht richtig rot ist das Blut, viel zu hell, fast orange. Vermengt man das helle Holländer-Blut aber mit dem etwas zu dunkel geratenen deutschen, dann wirkt es täuschend echt. Es kommt eben auf die richtige Mischung an.

Andreas Folkers ist kein perverser Meuchelmörder. Auch wenn ein Blick in den schwarzen Koffer des jungen Mannes den zart besaiteten Betrachter schaudern lässt. Abgetrennte Finger, Augen, ein halbes Bein und jede Menge Blut in Plastikflaschen – all das ist künstlich und gehört für Andreas Folkers zum Alltag. Folkers ist der Leiter des Jugendrotkreuz Jeverland. Während die jungen Kollegen der anderen Kreisverbände lustige Ausflüge in den Harz unternehmen und bei Straßenfesten Bratwurst und Brause verkaufen, haben sich die Nachwuchs-Lebensretter aus Ostfriesland einer ganz besonderen Aufgabe verschrieben. Sie sind Profis in der Realistischen Unfall-Darstellung (RUD) und dafür in den Fachkreisen ganz Nordwestdeutschlands bekannt. So tun, als ob, das kann das Team aus dem Landkreis Friesland am besten. Sei es ein Großbrand, ein Zugunglück oder ein Autounfall, auf Bestellung simulieren die jungen Rotkreuzler jede Art von Klein-Katastrophe. Autos vom Schrottplatz werden erneut gegen Laternenpfähle und in Straßengräben gefahren, ausrangierte Waggons der Deutschen Bahn aus ihrem Gleisbett geschoben, Krankenhäuser werden – probeweise – evakuiert.

Wozu aber dieser große Aufwand? Auch Notärzte und Rettungssanitäter müssen ausgebildet werden. „Mit der theoretischen Ausbildung stößt man irgendwann an Grenzen“, sagt Andreas Folkers. Und da ein angehender Notarzt nicht auf „richtige“ Patienten losgelassen werden darf, müssen die Simulanten ran, wenn die Weißkittel von morgen wieder mal üben wollen. Wird im Nordwesten ein Unglück nachgestellt, fällt die Wahl meist auf das Jeverländer Jugendrotkreuz. Bremen, Bremerhaven, Oldenburg, Cloppenburg: das Einsatzgebiet der geübten Darsteller ist groß.

Die sechs- bis 27-jährigen Jugendrotkreuzler bildet Andreas Folkers zu so genanten Mimen aus. Dabei wird er ab und zu von einer lokalen Theatergruppe unterstützt. Wer so tut, als sei er verletzt, muss vor allem schauspielerisches Talent haben. Das Schreien will gelernt sein. „Wenn ein Unfallsimulant einfach losbrüllt, wirkt das albern“, sagt Andreas Folkers. Wie schreit man, wenn man Schmerzen hat und wann schreit man überhaupt? Fragen wie diese sind es, mit denen sich ein Mime beschäftigen muss. Was kann man eigentlich noch bewegen, wenn ein Bein gebrochen ist? Bei welcher Art von Verletzung wird man sofort bewusstlos? Wie verhält sich jemand, der innere Blutungen hat? Einen Notfall-Patienten zu spielen, ist gar nicht so einfach.

Andreas Folkers' Koffer beherbergt viele Hilfsmittel. Damit die angehenden Mediziner lernen, eine Verletzung einzuordnen, müssen die simulierten Wunden so echt wie möglich aussehen. Rot und schwarz angemalt und auf den Leib geklebt, wirkt zum Beispiel Blattgelatine wie ein angekokelter Hautfetzen. Ein kleine Flasche enthält künstlichen Schweiß, der dem Patienten auf die Stirn geträufelt werden kann. Eine andere Flüssigkeit lässt Narben auf der Haut entstehen. Hat ein Schein-Patient einen Finger verloren, wird ihm eine Blut-Pumpe unter den Arm geklemmt. Das Blut spritzt dann nur so – wie in der Realität eben.

Sechs bis zehn größere Einsätze hat das Jugendrotkreuz Jeverland pro Jahr. Vor kurzem ist ein neues Aufgabenfeld dazu gekommen. Die Bremer Polizei hat die Ostfriesen angeheuert, um einen Autounfall vor einer Disko nachzustellen. Dem (natürlich nicht wirklich) verletzten Fahrer kippten die Profis ein Bier über das T-Shirt. So simuliert man eine Alkohol-Fahne. Der gestellte Crash war der erste Teil einer neuen Form von Präventionsarbeit. Die Kosten dafür übernahmen Polizei und Feuerwehr. Das Jugendrotkreuz erhielt lediglich eine geringe Aufwandsentschädigung. Die Polizisten wollten dem Diskopublikum ein drastisches Beispiel vor Augen führen, um es vor den Gefahren durch Alkohol am Steuer zu warnen. Derartige Aktionen will die Bremer Polizei nun öfter durchführen. „Ich glaube, wir haben viele junge Leute erreicht“, sagt Polizist Gundmar Köster. „Natürlich ist das Sargdeckelklapperei“, räumt er ein. Ein Diskobesucher freue sich schließlich auf einen netten Abend mit Freunden und nicht auf den Anblick eines blutüberströmten Körpers. Dennoch will die Polizei das Ostfriesen-Rotkreuz erneut einsetzen. „Die Verkehrswacht benutzt solche Stilmittel auch“, sagt Kös-ter. Und schließlich gehe es darum, Unfälle zu vermeiden.

Das sieht Andreas Folkers genauso: „Wenn an diesem Abend einem einzigen klar geworden ist, dass Alkohol am Steuer tödlich sein kann, ist das ein Erfolg.“ Gern käme er wieder nach Bremen. Denn: „Jeder Einsatz ist für uns eine Gelegenheit, zu üben.“ So werden die Ostfriesen vielleicht bald wieder Finger, Blut und Gelantine in den großen schwarzen Koffer packen, um den Bremer Nachtschwärmern einen präventiven Schrecken einzujagen. Falls dabei jemand aus den Latschen kippen sollte: Kein Problem. Die Jugendrotkreuzler haben geschulte Rettungssanitäter in ihren Reihen.

Ebbe Volquardsen

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