: Chaos in Kandahar
Paschtunische Stämme machen dem Chef der Übergangsregierung einen Strich durch die Rechnung
von BERNARD IMHASLY
Hamid Karzai erhielt am Wochenende einen Vorgeschmack dessen, was ihn als provisorischen Regierungschef Afghanistans erwartet. Die Kapitulation von Kandahar am Freitag lief nicht nach dem Skript ab, das Karzai mit dem Militärchef der Taliban ausgehandelt hatte. Statt die Waffen ordnungsgemäß abzugeben, verließ ein Großteil der Kämpfer mit ihren Gewehren und Raketenwerfern die Stadt.
Unter ihnen befanden sich zweifellos auch Al-Qaida-Mitglieder sowie vielleicht sogar Mullah Omar selber. Einige wurden von US-Spezialeinheiten gestellt und erschossen, doch die große Mehrheit dürfte sich in die Berge verzogen haben. Karzai musste bekennen, dass ihm Omar durchs Netz geschlüpft war.
Ein Grund für diese schlechte Regie war die Vernachlässigung der Rivalitäten unter den Führern der fünf Clan- und Mudschaheddin-Fraktionen, die alle Anspruch auf die Herrschaft über das historische Zentrum der Paschtunen-Stämme erheben. Karzai hatte in seinen Verhandlungen nur zwei Clanchefs, Mullah Nakibullah und Haji Bashir, einbezogen, deren Kämpfer die von den Taliban geräumte Stadt besetzen sollten. Dies behagte einem dritten Führer, Gul Agha Sherzoi, nicht. Dieser hatte in den letzten Wochen den stärksten militärischen Druck auf die Stadt ausgeübt.
Die Übergabevereinbarung von Karzai drohte Gul Agha um seinen Trophäe – die Besetzung der Stadt und die Übernahme des Gouverneursamtes – zu bringen. Statt sich am Freitag um die abziehenden Taliban zu kümmern, hatten es seine Kämpfer eilig, als Erste die wichtigsten Einrichtungen der Stadt zu besetzen. Dies gelang ihnen mit der Übernahme des Gouverneurspalastes und der Stadtverwaltung.
Das veranlasste andere Fraktionen, ebenfalls in die Stadt zu ziehen. Habibullah Khan besetzte eine Garnison, ein Kommandant der Hezbe Islami von Gulbuddin Hekmatyar brachte sich in den Besitz einer anderen, und Nakibullahs Kämpfer besetzten das Hauptquartier der Taliban. Laut Berichten von Hilfsorganisationen zogen schwer bewaffnete Kämpfer dieser Gruppen durch die Straßen, und lediglich die Lust auf Plünderungen hielt wohl viele davon ab, die Waffen gegeneinander zu richten.
Karzai traf am Sonntagmorgen in Kandahar ein und berief eine Versammlung von rund 150 Stammesführern und Religionslehrern ein, die einen Rat und einen Gouverneur für die Provinz wählen sollen. Auch in anderen Regionen kam es zu Auseinandersetzungen.
Afghanistan ist bekannt für die Fehden unter den Stämmen, wenn kein gemeinsamer Feind von außen droht. Die Führer, die sich heute in den Haaren liegen, hatten sich bereits nach dem Abzug der Sowjets Kleinkriege geliefert. Gul Agha, ein Paschtune vom Stamm der Barakzai-Durrani, war 1994 Gouverneur von Kandahar, als der ebenfalls paschtunische Stadtkommandant Mullah Nakibullah, vom Stamm der Alkozai, von sich aus den Taliban die Tore öffnete.
Es war die Empörung der Afghanen gegen die Gesetzlosigkeit durch die marodierenden Kämpfer dieser Mudschaheddin-Kommandanten gewesen, die den Taliban damals das Terrain ebnete. Karzai muss daher sein ganzes Prestige als neu ernannter Regierungschef des Landes und als Führer eines der wichtigsten Paschtunen-Stämme aufbieten, wenn er eine Entwicklung wie 1992 verhindern will. Er wird sich in Kabul nur dann gegen die siegestrunkenen Nordallianz-Kommandanten durchsetzen, wenn er zumindest alle Paschtunen hinter sich scharen kann. Bisher ist ihm dies nicht einmal bei den Durrani-Paschtunen der Kandahar-Region gelungen.
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