: Schinken für alte Männer
Nationale Eitelkeiten beim Verteilen neuer Behörden zeigen einmal mehr, dass die EU so keine Überlebenschance hat
aus Laeken DANIELA WEINGÄRTNER
Am Ende präsentierten sich die vierzehn alten Männer und Tarja Halonen, die finnische Staatspräsidentin, doch noch so, wie man es von ihnen kennt. Nachdem sie sich am Samstagvormittag ganz locker über die Einsetzung eines Reformkonvents geeinigt hatten, stritten sie sich abends wie die Kesselflicker um Pöstchen. Es ging um den Sitz von neun neuen EU-Behörden. Ähnlich wie bei Olympia bewerben sich stets viele Städte darum, den Zuschlag zu bekommen. Denn EU-Behörden schaffen Arbeitsplätze und bringen kaufkräftige Edelmigranten ins Land.
Silvio Berlusconi soll – bildlich gesprochen – einen duftenden Parmaschinken auf den Konferenztisch geknallt haben. Da Parma der Inbegriff der guten Küche sei, müsse die neue EU-Lebensmittelbehörde dort ihren Sitz haben. Jacques Chirac konterte mit dem Feinschmecker-Image seines eigenen Landes und brachte Lille als Standort ins Gespräch. Helsinki, das ebenfalls Ansprüche angemeldet hat, schien beiden Herren nicht akzeptabel, dort gebe es schließlich keine gute Küche.
Guy Verhofstadt, der als belgischer Politiker viel Übung in absurden Gefechten zwischen Provinzfürsten hat, tat das einzig Richtige: Er brach die unsinnige Diskussion ab. Das positive Signal der „Erklärung von Laeken“ sollte nicht verdorben werden.
Tatsächlich hat der belgische Regierungschef mit der „Erklärung“ ein diplomatisches Meisterstück zustande gebracht. Im März 2002 wird ein Konvent aus Regierungsvertretern, EU-Kommissaren, nationalen Parlamentariern und Europaabgeordneten seine Arbeit aufnehmen und ein Jahr lang über die Zukunft der EU beraten.
Samstagmittag trat ein sichtlich zufriedener Verhofstadt vor die Presse und verkündete: „Alle fundamentalen Fragen werden gestellt. Es wird keine Tabus geben.“ Ein Blick in die Erklärung zeigt, dass das nicht übertrieben ist. Eine ganze Seite ist der Frage gewidmet, wer künftig welche Aufgaben übernehmen soll. „Auf welcher Ebene wird Kompetenz am wirkungsvollsten ausgeübt?“, heißt es etwa. Edmund Stoiber hätte die Frage nicht drängender stellen können.
Der Konvent erhält auch den Arbeitsauftrag, die Rechtsinstrumente zu vereinfachen. Derzeit gibt es 30 verschiedene Möglichkeiten, von der Richtlinie über die Rahmenvereinbarung bis zu „Schlussfolgerungen“ der Gipfeltreffen. Verhofstadt wünscht sich, dass künftig die Rahmenvereinbarung das Hauptinstrument der EU-Gesetzgebung werden soll. Sie schafft einheitliche Wettbewerbsbedingungen, lässt aber jedem Mitgliedsland Gestaltungsspielraum.
Eng verknüpft damit ist die Arbeitsweise der Institutionen, die dieses juristische Chaos bislang produzieren. Sollte der Rat öffentlich tagen, wenn er EU-Gesetze erlässt? Sollte das EU-Parlament immer mit entscheiden? Sollte der Präsident der EU-Kommission direkt gewählt werden?
Im letzten Abschnitt wird dem Konvent der Auftrag erteilt, über eine europäische Verfassung nachzudenken. Die EU-Verträge sollen für die Bürger lesbar werden und möglichst in einen dauerhaften Teil und ein praktisches, aktualisierbares Regelwerk aufgeteilt werden. Wenn das gelänge, würden EU-Gesetze künftig den normalen parlamentarischen Prozess durchlaufen wie in allen Nationalstaaten auch. Die Gipfel der Regierungschefs würden ihre fiebrige Aufgeregtheit verlieren und mittelfristig wohl überflüssig.
Kein Wunder, dass die Erklärung in allen Parteien begeistert aufgenommen wird. Die Grünen im Europaparlament jubelten, Laeken habe die Tür für ein neues Europa aufgestoßen. Der konservative EU-Parlamentarier und Verfassungsexperte Elmar Brok hält die Erklärung für eine optimale Arbeitsgrundlage. Sein sozialdemokratischer Kollege Jo Leinen sprach von einem „Meilenstein im Vereinigungsprozess“. Der einzige Wermutstropfen sei die Zusammensetzung des Konventpräsidiums.
Es wird aus 12 Mitgliedern bestehen, von denen 6 als eine Art U-Boot der Nationalstaaten betrachtet werden müssen: Der Franzose Valéry Giscard d’Estaing wird Vorsitzender, flankiert von den beiden ebenfalls nicht mehr amtierenden Staatschefs Giuliano Amato (Italien) und Jean-Luc Dehaene (Belgien). Außerdem sind noch Vertreter der so genannten Troika im Präsidium: der jeweils vorangegangenen, aktuellen und künftigen EU-Präsidentschaft. Doch die Macht des Präsidiums ist beschränkt. Im Gesamtkonvent werden von 105 Mitgliedern 72 Parlamentarier sein.
Auch die Kandidatenländer inklusive der Türkei entsenden je zwei Parlaments- und einen Regierungsvertreter in den Konvent. In Fragen, in denen er sich nicht einigen kann, wird ihre Stimme bei den Mehrheits- und Minderheitsvoten mitgezählt. Sollte aber unter den Vertretern der fünfzehn Altländer in einem Punkt Einstimmigkeit herrschen, zählt die Stimme der Kandidaten nicht. Wie dringend die EU diesen Konsens für eine tragfähige neue Arbeitsgrundlage braucht, zeigt die Posse mit dem Parmaschinken. Da die EU-Lebensmittelbehörde bereits zum 1. Januar mit der Arbeit beginnen soll, wird sie zunächst provisorisch in Brüssel angesiedelt. Sollten sich Herr Berlusconi und die anderen doch noch über die Frage einigen, ob ein Schinken ein Standortvorteil ist, zieht sie eben wieder um. Was das kostet und wie es die wichtige Arbeit der Lebensmittelprüfer behindert, interessiert die machtverliebten Gipfelstürmer herzlich wenig.
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