bücher für randgruppen: Die „Edda“ in neuen und alten Übersetzungen
Sagen, die Thür und Thor öffnen
Vor drei Monaten sandte mir ein Berliner Antiquar eine Liste hübscher und antiker Bücher über Island zu. Diese sollten in Kürze versteigert werden.
Unter den Kostbarkeiten befand sich auch ein etwas deckelbröseliges, durchgegilbtes Exemplar der ersten deutschen „Edda“-Übersetzung aus dem Jahr 1777. Der Autor, ein preußische Konsistorialrat namens Jacob Schimmelmann, gab sich darin alle Mühe, die „geheime Gottes-Lehre der ältesten Hyperboraer“ vom Vorwurf der Unchristlichkeit und der Propagierung des Heidentums zu entlasten.
In seiner Vorerinnerung, die wir heutzutage Vorwort nennen würden, spannt er raffiniert den Bogen vom Heidengott Thor zum christlichen Gott. Denn, so solle der Leser bedenken, seien nicht „Thur und Thor“ Mittel, wodurch man in eine „Kirche, Hauß, Palast, Stadt eingehe“?
Selbstverständlich! Und schließlich, so endet Schimmelmann seine Vorerinnerung, heiße es in „Joh. C. 10: Ich bin die Thür und das Thor! Wer durch mich eingeht wird Weide finden und seelig werden!“ In Gottes Universum findet eben alles seinen Platz, selbst Thor als Thür.
Nach einer Vorbesichtigung am Donnerstag (!) fand ich mich jedenfalls wieder in einer Buchauktion, hob einmal meine Hand mit der Bieternummer und hielt verblüfft das Buch zum ersten aufgerufenen Preis in meinen Händen. Keiner bot mit, mein Glück. Nun gut, Schimmelmanns Werk gilt seit seinem Erscheinen bis in die heutige Zeit als wirr-abstruses Machwerk.
Im Jahr 1812 ging der Greifswalder Professor Friedrich Rühs daran, die altisländische „Edda“ dem deutschen Publikum erneut vorzustellen. Der Mediävist, zugleich ein überaus schlimmer Antisemit, betonte den christlichen und den angelsächsischen Einfluss, den das Werk aufweise.
Zudem lag ihm daran, das deutsche Publikum von einer „literarischen Unverschämtheit“ zu unterrichten, die selten ihresgleichen gefunden habe: „Die Herren Gebrüder Grimm, bekannt durch ganz erbärmliche Übersetzungen aus dem Dänischen, eine elende Märchensammlung und besonders eine Menge schlechter Rezensionen“ hätten sich über seine „Edda“-Übersetzung ein Urteil angemaßt: Es zeuge von ihren „üblen und frechsten Verfälschungskünsten, von unbegreiflicher Unwissenheit, roher und boshaftester Unverschämtheit, erbärmlichster Verdrehung und nichtswürdiger Krittelei“.
Kein Wunder, dass die Grimm-Brüder nur drei Jahre später ihre eigene Übersetzung der „Älteren Edda“ präsentierten. Aus den „Hyperboraern“ Schimmelmanns waren inzwischen längst „Germanen“ geworden. In den nächsten Jahrzehnten folgten etliche Übersetzungen der altisländischen Handschrift von Simrock, Gering, Neckel und Niedner. Jeder formte und interpretierte auf seine Weise.
Richard Wagner, der die isländische Variation der Nibelungensage aus der „Älteren Edda“ für seinen „Ring der Nibelungen“ verwandte, lässt in der Vogelweissagung die „igda“, die sieben Meisen des isländischen Originals, zu einem einsamen Waldvogel werden. Der Grund: Er mochte keine Chöre.
Die Nazis schließlich funktionalisierten das mittelalterliche Werk aus dem hohen Norden gleich zum Manifest ruhmreichen Germanentums um, garantiert humorfrei.
Von dieser Vereinnahmung haben sich die Dichtungen in Deutschland bis heute nicht erholt. Odin, Wotan und Loki fristeten bis heute ein Schattendasein in der rechten Ecke.
Sehr zu Unrecht, fand auch der norwegische Autor Tor Age Bringsvaerd. Und verfasste eine neue Nacherzählung der alten eddaischen Mythologie. Diese gelang ihm wunderbar frisch, lebendig, originell und ideenreich. Sicher bildeten sich aus den Maden der Leiche des Riesen Ymirs die Zwerge, wie es das mittelalterliche Original berichtet. Aber Bringsvaerd betont fröhlich unbekümmert, dass es eben keine gewöhnlichen Würmer seien. Oh nein! Wir verdanken ihnen die Schmiedekunst und vieles mehr.
Dass Mann und Frau aus dem Achselschweiß des Riesen entstanden und sich daraufhin die eifersüchtigen Füße paarten und einen Sohn mit sechs Köpfen gebaren, aus dem das Trollgeschlecht entstand, ist gar nicht so einfach nachzuvollziehen. Doch die Metamorphosen körperlicher und geistiger Natur, und seien sie noch so aberwitzig, finden sich in diesem Buch stets klar und schön verbunden.
Seine wilden Götter werden deshalb neben Herrn Schimmelmann und seinen raffinierten Thür-Thor-Assoziationen einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal finden.
WOLFGANG MÜLLER
Tor Age Bringsvaerd: „Die wilden Götter“. Deutsch von Tanaquil und Hans Magnus Enzensberger. Mit 77 Zeichnungen von Johannes Grützke. Eichborn Verlag, Die andere Bibliothek, Frankfurt a. M. 2001, 312 Seiten, 29,65 € (58 DM)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen