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Wenn Rotkäppchen zum Wolf wird

Ein unweihnachtliches Märchen: Der Anime „Jin Roh“ von Hiroyuki Okiura im 3001  ■ Von Gerd Bauder

Weihnachtszeit, das heißt auch im Kino Märchenzeit: Die großen Verleiher und Kinos starten pünktlich familientaugliche Märchen- und Fantasyfilme wie Plötzlich Prinzessin, Herr der Ringe oder Atlantis, auf dass diese ihnen klingelnde Kassen bescheren. Was für Geschichten dabei verzapft werden, ist nebensächlich. Oftmals sind die Storys in ihrer peinlich penetranten Gefühlsduselei Hollywood'scher Provenienz allerdings unerträglich.

Da sind im diesjährigen Angebot Harry Potter und Herr der Ringe durchaus rühmliche Ausnahmen, weisen sich beide Filme doch wenigstens durch überzeugende Geschichten aus. Nichtsdestotrotz fügen sich auch diese beiden Filme im weitesten Sinne in die am Vierundzwanzigsten ihren Höhepunkt erreichende Sentimentalität.

Ganz anders verhält es sich da mit Jin Roh. Nicht nur startet der Film des (noch) kleinen, aber bezüglich der Verbreitung fernöstlicher Filmkunst äußerst umtriebigen Verleihs Rapid Eye Movies in dem ebenfalls „kleinen“ und feinen 3001-Kino und empfiehlt sich alleine dadurch als Alternative zum Multiplex-Weihnachts-Glitter. Nein, der Manga bietet zudem all jenen Abwechslung, denen die Besinnlichkeit dann doch zu viel wird, denn dafür haben die Macher von Jin Roh nicht viel übrig.

Auf einem Drehbuch von Ghost in the Shell-Regisseur Mamoru Oshii basierend, hat Regiedebütant Hiroyuki Okiura aus Jin Roh ein aktionsreiches und technisch beeindruckendes Anime gemacht. Dies liegt daran, dass Okiura weitestgehend auf digitale Bearbeitung verzichtete und statt dessen analog, sprich mit der Hand arbeiten ließ. Herausgekommen sind dabei wunderbare, fotorealistische Großstadtansichten und toll choreographierte Massen- und Actionszenen.

Bereits die Exposition des Filmes – eine minutenlange Darstellung von Straßenkämpfen aus der Sicht verschiedener involvierter Parteien: Polizei, Geheimdienst, Stadtguerilla – weiß die Zuschauer in den Bann zu ziehen. Temporeich und spannend inszeniert verblüfft Jin Roh fortan auf formaler Ebene, was nicht zuletzt an der „Kameraarbeit“ liegt. Nicht starre Totalen oder Naheinstellungen wie in so manchem Zeichentrickfilm bestimmen das Geschehen, sondern Zooms, Plansequenzen und eine sozusagen „entfesselte Kamera“. Das macht Spaß.

Gleichzeitig wiegt dies die inhaltlichen Schwächen des Filmes auf. Im Zentrum der Geschichte steht Fusé, Kämpfer einer Spezialeinheit, der nach einem fehlgeschlagenen Geheimkommando in die Intrigen des Machtapparates eines fiktiven 50er-Jahre-Japans verwickelt wird. Im Verlauf der Geschichte wird es, genretypisch, zunehmend schwieriger und zugleich irrelevanter, den Überblick zu bewahren: Wer kämpft eigentlich gegen wen? Und warum?

Wen kümmert's, denn der Film bleibt trotz fehlender erzählerischer Stringenz stets kurzweilig. Neben den erwähnten formalen Aspekten überrascht Jin Roh immer wieder durch seine Vielschichtigkeit. Dies gilt vor allem für die Adaption des Rotkäppchen-Märchens, die in der Mitte des Filmes einsetzt. Plötzlich tut sich eine von der eigentlichen Geschichte unabhängige Ebene auf, ermöglicht eine weitere Lesart des Filmes. Der ob seines militaristischen Untertones zuweilen fragwürdige Politthriller wird so zu einer Betrachtung über den rücksichtslosen Antiindividualismus autoritärer Regierungen, in denen selbst das Rotkäppchen zum Wolf werden muss. Damit ist die Fiktion in Jin Roh vielleicht näher an der Realität als am Märchen. Bestimmt ist Jin Roh dadurch aber das Richtige für all jene, die Weihnachtsgeschichten einfach nicht ausstehen können.

täglich bis 2.1. (außer 24. + 31.12., 22.30 Uhr, 3001

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