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Purpurfische und andere Randfiguren

In den Siebzigerjahren hoffte Peter Schultze-Kraft für Südamerika auf den „kreativen Hass“ von links. Fast 25 Jahre später legt er mit einer zweiten Kolumbien-Anthologie Wert auf literarische Akzente

Gewalt auf dem Lande blendet Schultze-Kraft als Kernproblem Kolumbiens heute aus

von GERHARD DILGER

„Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige, widersprüchliche, großartige Land zu verstehen“ – diesem Diktum des Bogotaner Buchhändlers Hans Ungar über Kolumbien ist schwer zu widersprechen. Die Werke von Laura Restrepo oder von Altmeister Gabriel García Márquez sind immer noch das beste Gegengift gegen die in den Massenmedien verbreitete Reduktion des Andenstaates auf die drei Ks: Krieg, Kokain und Katastrophen.

Bei seiner jüngsten Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel „Und träumten vom Leben“ strebt der Kolumbienkenner und Herausgeber Peter Schultze-Kraft ausdrücklich diese Art von Repräsentativität an: Er spannt den Bogen von einem Ausschnitt des romantischen Klassikers „Maria“ von Jorge Isaacs (1867) bis zu zeitgenössischen jüngeren Autoren wie dem 27-jährigen Antonio Ungar. 74 Erzählungen hat er zusammengetragen, und fast alle erscheinen zum ersten Mal auf Deutsch.

Wahre Perlen sind darunter, die selbst in Kolumbien kaum jemand kennt: etwa die Kurzgeschichte „Die Reise“, in der Álvaro Mutis auf gut zwei Seiten viel vom magischen Realismus der Fünfziger- und Sechzigerjahre vorwegnimmt. Nachdem der lakonische Beobachter und Ich-Erzähler als Zugschaffner Menschen und Landschaften hat Revue passieren lassen, wird er zum Steuereintreiber am Río Magdalena. Mit seiner Freundin lebt er fortan „von den Abgaben für den Fang eines in diesen Gewässern reichlich vorhandenen Purpurfischs“. Der vagabundierende Lebenskünstler Maqroll aus Mutis’ viel späterem Romanwerk lässt grüßen.

Das Reisemotiv spielt gerade bei jenen Erzählungen eine Rolle, die am meisten über die unterschiedlichen Lebenswelten Kolumbiens aussagen: Darío Ruiz Gómez beleuchtet die sozialen Gegensätze Medellíns aus der Perspektive eines Jungen, der auf den Busfahrten zwischen Hochhausappartement und Privatschule flüchtige Eindrücke aus der Welt seiner armen Landsleute gewinnt. Eine der Fahrten endet schließlich apokalyptisch auf einem „fremden Planeten“ – einem Elendsviertel. Wie ein Echo hierauf wirkt Santiago Gamboas Erzählung, in der die Politikertochter Clarita auf einer Fahrt ins Stadtzentrum von Bogotá in ein ebenso traumatisches Abenteuer verwickelt wird.

In seinem Nachwort bezeichnet Schultze-Kraft „die Guerrilla und die Drogen“ als „die größten Feinde“ Kolumbiens. In den Siebzigerjahren hatte er mit Dorothee Sölle die Gewalt von links noch hoffnungsvoll als „kreativen Hass“ gefeiert. Beides, die damalige Verklärung wie die heutige Verteufelung der Rebellen als rein kriminell-terroristische „Marxosaurier“, ist durchaus Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes. Durch die teilweise romantisierenden „Guerrilla-Erzählungen aus Kolumbien“ (1977) hatte Schultze-Kraft die politische Gewalt auf dem Lande beleuchtet, die bis heute ein Kernproblem Kolumbiens ist. Nun blendet er diese Realität und ihre Ursachen weitgehend aus – ebenso wie die seither gewachsene Unkultur im Umfeld des Drogenhandels. Weil er einen Kontrapunkt zu seiner vorherigen, längst vergriffenen Kolumbien-Anthologie setzen wollte, bleibt er hinter jenem Anspruch zurück, den Nachwort und Klappentext suggerieren. Dabei hätte es genügt, eine Hand voll aussagekräftiger Erzählungen aufzunehmen, etwa aus seiner Sammlung „La horrible noche“ (Die schreckliche Nacht), die zeitgleich in Kolumbien erschienen ist.

„Die Rettung“, so wendet sich Schultze-Kraft an die kolumbianischen LeserInnen, „wird weder von der Guerrilla kommen können noch von den Paramilitärs oder von der Schicht, die bis heute die Macht ausübt.“ Doch ohne eine Versöhnung zwischen diesen zahlenmäßig geringen, aber einflussreichen Kräften, so möchte man hinzusetzen, bleibt auch eine tragfähige Friedenslösung illusorisch. Erhellende Schlaglichter auf die Welt der Mächtigen finden sich in der deutschsprachigen Anthologie, etwa das groteske Porträt eines Kardinals (Daniel Samper) und ein grandioser Text von Jorge Zalamea aus dem Jahre 1949, der mit surrealistischen Anklängen die beängstigend aktuelle Atmosphäre des damaligen Bürgerkriegs einfängt.

Frauen, Schwarze oder Indígenas hingegen sind meist Randfiguren. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die meisten kolumbianischen Erzähler aus der weißen, städtischen Mittel- und Oberschicht stammen und Männer sind. Andererseits gibt es durchaus gute Texte, die die Vielfalt der kolumbianischen Gesellschaft in diesem Sinne noch plastischer hätten vermitteln können.

Doch auch so bleibt ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher, hervorragend übersetzter Geschichten, die die Lektüre des liebevoll ausgestatteten Bandes zum Vergnügen machen. Auffällig hierbei, wie viele der jüngeren, hierzulande völlig unbekannten AutorInnen sich von kolumbianischen Sujets abwenden. Mit den immer noch weit verbreiteten Erwartungen der Leserschaft in Nordamerika oder Europa nach tropischer Exotik hat das nichts zu tun. Aber es zeigt, wichtiger noch, worum es den AutorInnen geht: Jenseits der bedrückenden Alltagswirklichkeit Kolumbiens schaffen sie sich neue Freiräume.

Peter Schultze-Kraft (Hg.): „Und träumten vom Leben“. Deutsch von Erich Hackl u. a. Edition 8, Zürich 2001. 430 Seiten, 23 €

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