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„Genuss gehört zu jedem Menschen“

Slow Food, die „Internationale Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss“, feiert 2002 ihr zehnjähriges Bestehen hierzulande. Andrea Arcais, Geschäftsführer Deutschland, beschreibt im Interview die Zusammenhänge von Essen und Kultur mit sozialen und ökologischen Fragen

Interview OLE SCHULZ

taz: Herr Arcais, wie haben Sie das Schlemmen zur Weihnachtszeit überstanden?

Andrea Arcais: Eigentlich ganz gut. Heiligabend haben meine Freundin und ich gemeinsam mit acht Freunden einen großen, vier Kilo schweren Steinbutt verspeist. Das ist ein Fisch, den ich mir nur sehr selten leiste, erstens weil er ziemlich teuer ist und zweitens weil er wirklich toll schmeckt. Und man sollte solch besondere Speisen nicht dadurch entwerten, dass man sie täglich isst. Der Steinbutt hat einen unglaublich intensiven Eigengeschmack, sodass man nur ganz wenig dran tun muss; mit Olivenöl, Butter und ein wenig Wurzelsud kommt er in den Backofen, nach einer halben Stunde ist er fertig, einfach wunderbar.

Sie sind in Sardinien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Welche Küche bevorzugen Sie?

Ich bin überhaupt nicht festgelegt. Das Einzige, was ich nicht von der deutschen Küche übernommen habe, ist diese Tendenz, alles auf einen Teller zu packen. Wo die mediterrane Küche aus einem Essen drei Gänge zaubert, da macht die deutsche meistens einen Teller draus, auf dem sich die Zutaten türmen. Am Ende wundern sich alle, dass sie pappsatt in der Ecke liegen. Was ich mir bewusst bewahrt habe, ist das Essen so aufzuteilen, dass es schmackhaft ist. Mir ist wichtig, dass die Zutaten nach sich selber schmecken und nicht alles ineinander gepampt wird. Ansonsten bin ich ein absoluter Wanderer zwischen den Welten. Am ersten Weihnachtsfeiertag zum Beispiel gab es bei uns ein Lammcurry, weil ich zurzeit sehr gern mit Curry koche. Dazu mache ich mir einen Wintersalat, zu dem Olivenöl gehört – ich bin also komplett undogmatisch.

Im Manifest von 1989 wird Slow Food als „Internationale Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss“ genannt. Das klingt ziemlich hedonistisch.

Das mag ein Stück weit zutreffend sein. Was in Deutschland aber noch mehr mitschwingt, ist das Etikett des Elitären, das uns häufig angehängt wird. Genuss ist offensichtlich etwas, das bei uns immer noch nicht als selbstverständlich angesehen wird, sondern als etwas, das den besser Verdienden vorenthalten ist. Das ist natürlich grober Unfug, denn Genuss hat erst einmal nichts mit Geld zu tun. Es ist vielmehr eine Lebensauffassung. Ein Stück Obst etwa kostet nicht viel, aber es kann ganz wunderbar schmecken. Wir betrachten Genuss als etwas, das zu jedem Menschen gehört. Wer das Manifest liest, wird verstehen, dass es uns vorrangig darum geht, die Individualität gegenüber der Schablonisierung zu bewahren. Was und wie man genießt, ist von jedem einzelnen Menschen abhängig, das kann man nicht festlegen.

Slow Food wurde in Italien gegründet, rund die Hälfte der weltweit 70.000 Mitglieder sind Italiener, gleichwohl wollen Sie als deutscher Ableger gerade auch die heimischen Regionalküchen neu präsentieren. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein, überhaupt nicht, weil wir ja keine italienische, sondern eine internationale Bewegung sind. Wir sind nicht dazu angetreten, die italienische Lebensart zu exportieren. Dass der Slow-Food-Gedanke in Italien geboren wurde ist zwar kein Zufall, aber wir versuchen die Slow-Food-Anliegen auf die Verhältnisse in Deutschland anzupassen. Slow Food hat grundlegende Forderungen, und gleichzeitig gibt es nationale Akzentuierungen. Zum Beispiel ist der ökologische Landbau bei uns ein viel wichtigeres Thema als in Italien, auch in der politischen Diskussion.

Was hat die deutsche Küche denn überhaupt so zu bieten?

Ich lebe in Westfalen, und was ich hier wirklich richtig klasse finde, sind dicke Bohnen, anderswo „Saubohnen“ genannt, mit Speck, eine Spezialität aus dem Münsterland. Grandios sind auch Birnen, Bohnen und Speck, wie sie in Hamburg zubereitet werden. Tolle Sachen gibt es nicht zuletzt im südwestdeutschen Raum, gerade in den Weingegenden – leider sind viele dieser Gerichte außerhalb der Region kaum bekannt. Als Saisongemüse des Winters kann ich Spitzkohl empfehlen, entweder als Beilage oder zum Kochen, und Rosenkohl, zusammen mit Maronen wie ein Gulasch gekocht, schmeckt genial.

Die New York Times hat Slow Food als „WWF der Gastronomie“ bezeichnet. Worin liegen die Unterschiede zur klassischen Ökologiebewegung?

Solche Vergleiche halte ich für schwierig. Was aber stimmt: Bei Slow Food stehen nicht die Art und Weise des Anbaus im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Frage des Genusses, den wir als eine der zentralen Motivationen des Menschen verstehen. Damit sind wir beim Geschmack, der wiederum untrennbar mit der Qualität verbunden ist. Es gibt nun Produkte aus dem ökologischen Landbau, die zwar von der Anbaumethode tadellos sind, aber sowohl geschmacklich als auch ästhetisch unsere Ansprüche nicht erfüllen. Andererseits gibt es Hersteller, die nicht unbedingt alle ökologischen Kriterien erfüllen, dafür aber Produkte von einer hervorragenden Qualität anbieten. Für uns gibt es da Schnittmengen, die immer größer werden, und ich glaube, dass der ökologische Landbau in den letzten Jahren gerade auch bei der Produktqualität große Fortschritte gemacht hat.

Mittlerweile ist Slow Food fast 20 Jahre alt, in Deutschland feiern Sie dieses Jahr zehnjähriges Jubiläum. Seit der Gründung hat sich viel geändert, die Auswüchse der industriellen Lebensmittelproduktion sind in den letzten Jahren immer deutlicher geworden . Wie hat sich das auf Slow Food ausgewirkt?

Es gab große Veränderungen: Am Anfang, als Slow Food 1992 in Deutschland gegründet wurde, stand bei den meisten die Sympathie für die Sache dahinter, Fragen der Lebenshaltung oder auch der Tafelkultur, das hedonistische Moment wurde also noch stärker betont. Inzwischen hat Slow Food sowohl international als auch in Deutschland eine Reihe von Kampagnen gestartet, die unterschiedlichste Themen aufgegriffen haben. Bei der „Arche des Geschmacks“ geht es neben den sozialen Produktionsbedingungen in den armen Ländern um Fragen der Biodiversivität und den Erhalt der natürlichen Ressourcen und wie das mit der Lebensmittelqualität zusammenhängt. Mit der Kampagne „Sinnes- und Geschmacksbildung bei Kindern“ greifen wir dagegen auch ins Bildungssystem ein. In diesem Jahr wollen wir zum zehnjährigen Jubiläum eine Diskussion um eine grundsätzlichere Standortbestimmung führen.

Lebensmittelqualität wird zunehmend über den Preis reguliert. Wie viel sind Sie persönlich bereit, für ein gutes Steak zu bezahlen?

Das kann gar nicht anders gehen, als die Qualität über den Preis zu regulieren. Fleisch esse ich persönlich allerdings nicht so furchtbar häufig. Ich kaufe mir lieber ab und an ein wirklich gutes Filet und achte dann nicht so sehr auf den Preis, der bis zu 100 Prozent über dem im Supermarkt liegen kann.

Ein Slow-Food-Mitglied hat versucht, für den Sozialhilfesatz von 8,71 Mark am Tag einen Monat lang die Genussphilosophie des Vereins umzusetzen. Hat das geklappt?

Ja, aber nur mit großen Anstrengungen. Es geht im Prinzip, aber man ist dann mit nichts anderem mehr beschäftigt, als sich um seine Ernährung zu kümmern. Unser Proband fuhr mit dem Fahrrad zum Markt und backte sein Brot selbst, weil das am billigsten war. Mal eben was fertig aus der Dose zu kaufen, das geht nicht. Und Geld für soziale Unternehmungen, wie zum Beispiel Kino und Kneipe, bleibt keins mehr übrig.

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