: Scheitelpunkt Genua
Die Anti-Globalisierungs-bewegung hat nach den Terroranschlägen vom 11. September mit dem Umdenken begonnen – das muss sie auch. Militante Protestformen könnten sonst mit der Gewalt des Islamismus verwechselbar werden. Ein Essay vor dem nächsten Gipfel in den kanadischen Rocky Mountains
von WOLFGANG KRAUSHAAR
Nach den Zusammenstößen von Göteborg war es nahe liegend, sich vom G-8-Gipfel in Genua eine nochmalige Steigerung der Aktivitäten und eine weitere Eskalation zu erwarten. Was sich dann im Juli vorigen Jahres in der italienischen Hafenstadt abspielte, hat alles in den Schatten gestellt, was es bei ähnlichen Anlässen zuvor an Sicherheitsvorkehrungen auf der einen und an Mobilisierungsformen und Gewaltaktionen auf der anderen Seite gegeben hat. Nachdem schon die exorbitanten Absperrungsmaßnahmen in der Altstadt von Genua Schlimmes erahnen ließen, machten die folgenden Zusammenstöße unmissverständlich klar, dass man dabei war, eine unsichtbare Grenze in der öffentlichen Austragung von Konflikten zu überschreiten.
Das vom martialischen Auftreten der Sicherheitskräfte ebenso wie von der Entschlossenheit zum Widerstand seitens der Demonstranten geprägte Szenario nahm mehr und mehr Züge eines Bürgerkriegs an. Der Tod des 23-jährigen Carlo Giuliani, der beim Versuch, einen Jeep der Carabinieri mit einem Feuerlöscher anzugreifen, erschossen worden war, löste zwar einen Schock aus, hinderte die italienische Polizei jedoch nicht daran, zu nächtlicher Stunde in ein Gebäude des Genua Social Forum einzudringen und dort Hunderte von Globalisierungsgegnern zu misshandeln. Nicht nur Beobachtern und Kommentatoren war klar ‚ dass für die Antiglobalisierungsbewegung im Juli 2001 ein Scheitelpunkt erreicht worden war.
Obwohl in der Öffentlichkeit ein Hin- und Herschwanken zwischen der Kritik an der Gewaltbereitschaft einer Minderheit von Demonstranten und den Überreaktionen der Carabinieri zu beobachten war, stellte sich schon bald heraus, dass der Protest nun auch unter führenden europäischen Politikern ein Echo finden sollte. Nunmehr bemühte sich der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker ebenso wie Bundeskanzler Gerhard Schröder darum, in Reden und Interviews unter Beweis zu stellen, wie ernst sie die Proteste der Globalisierungsgegner nehmen würden.
Unter dem Eindruck der spektakulären Berichterstattung von Genua schien sich mit einem Mal auch bundespolitisch der Wind zu drehen. Das Thema Globalisierungskritik fand nicht nur Eingang in die Fraktionen der im Bundestag vertretenen Parteien und in die Bundesregierung. Politiker wie Außenminister Joschka Fischer, die sich in ihrem einmal eingeschlagenen Kurs nicht beirren lassen wollten, gerieten nun unter Druck. Die Legitimität vieler der von den Globalisierungskritikern vertretenen ökonomischen, sozialen und ökologischen Forderungen wurde nicht mehr pauschal in Abrede gestellt, sondern zum Gegenstand politischer Erörterungen gemacht.
Das Bürgerkriegsszenario, das tagelang die Straßen und Plätze von Genua beherrschte, hat auch unter den Regierungschefs der mächtigsten Industrienationen seine Spuren hinterlassen. Künftig will man derartige Gipfelveranstaltungen auf ein kleineres Format herunterschrauben und zu den 1975 in Rambouillet noch praktizierten Kamingesprächen im vertrauteren Kreise zurückkehren. Ob diese Absichtserklärung dazu beitragen kann, die angeschlagene Legitimität derartiger Gipfeltreffen wieder herzustellen, dürfte äußerst zweifelhaft sein. Das nächste G-8-Treffen soll 2002 in der Abgeschiedenheit eines kanadischen Bergdorfes in den Rocky Mountains stattfinden. Die ersten Globalisierungsgegner vor Ort haben allerdings schon begonnen, Pläne zu entwerfen und Szenarios zu erproben, wie die wenigen Zugangsmöglichkeiten blockiert werden könnten.
Grenzen der Anti-Globalisierungsbewegung. Die von Bewegungsforschern aufgeworfene Frage, ob es sich bei den Globalisierungsgegnern eher um eine lockere Allianz höchst unterschiedlicher Strömungen und Gruppierungen handelt als um eine regelrechte soziale Bewegung, die sich von ihrer Herkunft, ihrer Programmatik und ihren Interessen auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen könnte, ist für eine Beurteilung der bei den letzten Großdemonstrationen in Erscheinung getretenen Schwierigkeiten von untergeordnetem Interesse. Es ist nahe liegend, dass diese Strömung nicht die vermeintliche Kohärenz der Arbeiter-, der Frauen- oder der Ökologiebewegung erreichen kann und deshalb analytisch wohl mit einem sehr viel höheren Unsicherheitsfaktor verbunden bleiben wird. Sie rekrutiert sich sozial, politisch und geografisch aus so unterschiedlichen Quellen, dass eine klarere Konturierung ihres Profils vorerst nicht zu erwarten ist. Was jedoch beim Entwicklungsstand dieses in seiner Dynamik kaum zu überschätzenden Bewegungsphänomens deutlich gemacht werden kann, sind die Grenzen der Antiglobalisierungsbewegung.
Erstens: Jegliche Globalisierungskritik, die den ökonomischen Liberalismus zu überwinden versucht, indem sie auf vermeintliche Alternativen verweist, ist den Beweis ihrer Praktikabilität bislang schuldig geblieben. Der kapitalistische Welthandel scheint ebenso schatten- wie alternativlos zu sein. Von keinem der noch existierenden kommunistischen Staaten geht eine als exemplarisch oder gar vorbildlich geltende Ausstrahlung aus. Im Gegenteil, sie suchen, wie am Beispiel Chinas besonders deutlich zu sehen ist, selbst nach einem geeigneten Anschluss an den Welthandel, die Waren- und Finanzströme des kapitalistisch bestimmten Weltmarktes. Seit dem Versagen der sozialistischen Planökonomien existiert nur noch eine immanente Kritik am weltweiten Kapitalismus.
Zweitens: Jede radikale Kritik an der Globalisierung scheint eine antikapitalistische Rhetorik zu reaktivieren, die wesentliche Teile ihres Geltungsanspruchs historisch eingebüßt haben dürfte. Insofern stoßen Teile einer Bewegung, die sich nicht nur in Opposition zum gegenwärtigen alles beherrschenden Wirtschafts- und Modernisierungskurs befindet, sondern auch auf eine systematische Alternative der Ökonomie abzielt, ins Ungewisse.
Drittens: Mit antikapitalistischer Rhetorik verbindet sich eine Sogwirkung auf diverse linksradikale Gruppierungen, die über Jahre hinweg in der Bedeutungslosigkeit verschwunden waren und längst delegitimiert sind. Bei der notwendigen Globalisierungskritik kann es sich jedoch nicht um ein Erweckungsprogramm jener Teile der Linken handeln, die historisch bereits abgestraft sind. Die Hoffnung, den alten Traum von einer sozialen Revolution nun auf dem Umweg der Globalisierungskritik wiederbeleben zu können, ist ebenso monströs wie unerfüllbar.
Viertens: Was die Geschichte der verschiedensten Protestbewegungen in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufs Neue gezeigt hat, nämlich dass Gewalt Aufmerksamkeit verschafft und so den Protestaktionen auch unabhängig von der Legitimität ihrer Zielsetzungen den Anschein politischer Bedeutung vermittelt, gilt auch und ganz besonders für die Bewegung der Globalisierungsgegner. Durch die weiter gewachsene Rolle der medialen Präsenz stecken sie in einer regelrechten Militanzfalle. Je gewaltfreier ihre Protestaktionen verlaufen, desto geringer fällt das Echo in der medial bestimmten Öffentlichkeit aus.
Und umgekehrt: Je gewaltsamer – und das haben die Vorfälle in Göteborg und Genua noch einmal nachhaltig unter Beweis gestellt – die Protestaktionen sich entwickeln, desto stärker ist ihre öffentliche Resonanz. Der Preis für die Überwindung der Aufmerksamkeitsschwelle durch den Einsatz gewaltsamer Mittel ist jedoch zumeist sehr hoch. Die Überschreitung der Legalität macht zumeist das wieder umgehend zunichte, was sie an öffentlicher Aufmerksamkeit gerade zu konstituieren im Gange ist. Insbesondere die kalkulierte Randale minoritärer Gruppierungen droht die Bewegung immer wieder zu spalten. Ob der Vorschlag der Londoner New Economic Foundation, unter der Bezeichnung „Code of Protest“ eine Selbstverpflichtung für gewaltfreie Aktionen zu vereinbaren, an diesem Dilemma etwas ändern kann, darf bezweifelt werden.
Fünftens: Der Kampf gegen die Globalisierung trägt gespensterartige Züge. Die Polyvalenz des Schlüsselworts, das zwischen so unterschiedlichen Dimensionen wie Ökonomie und Politik, Kultur und Gesellschaft oszilliert, schlägt sich in der Diffusion möglicher Kontrahenten nieder. Es ist häufig unklar, wer der Adressat der Proteste ist. Sind es die multinationalen Konzerne, supranationale Organisationen oder einzelne Staaten und deren Regierungen, oder alle diese Akteure zusammen? Globalisierung ist ein Abstraktum, das sich zwar in einer Vielzahl von Konkretisierungen niederschlägt, in seiner Struktur jedoch kaum greifbar ist. Es gibt vor allen Dingen keine zuverlässige Unterscheidung zwischen drinnen und draußen mehr. Auch die Gegner der Globalisierung sind längst involviert und fungieren innerhalb der von ihr determinierten Logiken. Eine Möglichkeit, sich wie zu Zeiten des Antiimperialismus oder des Antikolonialismus außerhalb des als gegnerisch apostrophierten Herrschaftssystems zu positionieren, ist verstellt.
Die Gipfeltreffen bieten den Demonstranten, die nach Anlässen suchen, um überhaupt einen Einsatzpunkt zu finden, kaum mehr als Arenen für ein möglichst spektakuläres Auftreten. Da ihnen Einblick in und Einfluss auf die ökonomischen Entscheidungsprozesse entzogen sind, suchen sie nach einer Gelegenheit, ihren Protest zu artikulieren. Es wird dabei unterstellt, durch Druck auf die politischen Repräsentanten der mächtigsten Staaten könne Einfluss auf wirtschaftspolitisch relevante Entscheidungen gewonnen werden.
Das könnte jedoch eine Fiktion sein. Auch wenn die Demonstrationen in Seattle tatsächlich Einfluss auf das Scheitern gehabt haben sollten, was durchaus umstritten ist, so wäre es voreilig, daraus den Schluss ziehen zu wollen, dass dies eine Erfolg versprechende Strategie sein könnte. Beschlussfassungen der World Trade Organization (WTO) zu verhindern, ist eine Angelegenheit, konstruktiv auf den Prozess der Globalisierung Einfluss zu nehmen, eine ganz andere.
Im Schatten des islamistischen Terrorismus. Seitdem vier Passagiermaschinen entführt und zwei von ihnen in die New Yorker Twin Towers eingeschlagen sind und sie zum Zusammensturz geführt haben, hält die Welt den Atem an. Die Überzeugung allerdings, dass nach dem 11. September 2001 nichts mehr so sein würde wie zuvor, ist inzwischen auch von den meisten derjenigen als übereilte Reaktion zurückgewiesen worden, die sich zunächst des Gefühls sicher zu sein glaubten, dass der durch die Terroranschläge ausgeübte Einschnitt tiefer gegangen sein könnte, als es in den TV- Übertragungen und den anderen Berichten der Massenmedien zum Ausdruck gekommen ist.
Es gibt jedoch zumindest eine Gruppierung beziehungsweise Strömung, die bei dieser Wahrnehmungskorrektur keine Berücksichtigung finden dürfte. Für sie gilt die vermeintliche Überreaktion, dass nach dem 11. September nichts mehr so sein werde wie zuvor, in einem unveränderten und ganz spezifischen Sinne. Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon haben ganz unterschiedliche und vielfältige Verwüstungen hinterlassen, auch solche im Feld der Semiotik. Gerade weil die Anschläge ohne Bekenntnis geblieben sind, stieg ihre symbolische Aufladung schier ins Unermessliche. Im Crash der Twin Towers wurde nicht nur ein Angriff auf die höchsten Bürotürme New Yorks und damit auf die architektonische Kapitale der Vereinigten Staaten, sondern auch ein Angriff auf die Spitze des Welthandels gesehen.
Seitdem läuft jede Aktion von Globalisierungsgegnern und -kritikern Gefahr, in ihrer Symbolik als gemeinsame Sache mit der der islamistischen Terroristen wahrgenommen zu werden. Was sich bislang als Kritik an der WTO geäußert hat, könnte nun in einen Vernichtungsschlag auf das World Trade Center gemündet sein.
Eine der Galionsfiguren der Globalisierungskritik hat dazu lakonisch angemerkt: „Erst geht das Fenster von Starbucks in die Brüche – und dann das World Trade Center.“ Diese Wortmeldung zeigt eine elementare Schwierigkeit auf. Zwischen der in ihrer Legitimität unbestreitbaren Globalisierungskritik und dem durch nichts – weder sozial noch ökonomisch, weder religiös noch kulturell – legitimierbaren Terrorismus scheint es nur noch graduelle Unterschiede zu geben und nichts mehr, was als qualitative Differenz verstanden werden könnte. Die Aktionen der Terroristen erwecken den Anschein, als stellten sie nichts anderes als Steigerungen im Rahmen ein und derselben Radikalisierungs- und Eskalationslogik dar.
Diese Gefahr eines mangelnden Unterscheidungsvermögens oder – umgekehrt formuliert – eines übersteigerten Identifikationsbegehrens spiegelt sich auch im Votum eines prominenten sozialdemokratischen Expolitikers.
Der ehemalige Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstituts, Egon Bahr, hat die Terrororganisation al-Qaida provokativ als „NGO“, als Nichtregierungsorganisation, bezeichnet. Eine solche Bezeichnung mag zwar darauf verweisen, dass es hier nicht mehr in einem konventionellen Sinne um einen Krieg geht, bei dem sich staatliche Akteure gegenüberstehen, jedoch wird damit zugleich jede qualitative Differenz gegenüber legitimen Akteuren auf dem internationalen Handlungsfeld eingeebnet.
WOLFGANG KRAUSHAAR, Jahrgang 1948, ist Mitglied des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Autor vieler Bücher über die Folgen der Achtundsechzigerbewegung. Sein Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags in der Zeitschrift Mittelweg 36 vom Dezember 2001
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