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Kandahar als unerreichbare Silhouette

■ Angemessen bruchstückhaft: Mohsen Makhmalbafs Reise nach Kandahar

Eine afghanische Journalistin kehrt aus dem kanadischen Exil zurück in die Heimat, um ihre verzweifelte Schwester vom Selbstmord abzuhalten. Die Reise nach Kandahar wird zur Odyssee durch ein Land, dessen Menschen gelähmt sind durch Armut, Kriegsfolgen und die Tyrannis eines fanatischen Regimes. Des Titels wegen wird der Film unverhoffte Besucherzahlen erreichen, seines Starttermins wegen ist er Anlass zu Diskussionen, die nicht in seiner Absicht liegen konnten.

Eine dieser Diskussionen dreht sich um die Frage, ob der Film die Realität in Afghanistan angemessen wiedergebe, insbesondere die Unterdrü-ckung afghanischer Frauen und Mädchen. Ob Mohsen Makhmalbaf die zutreffenden Bilder für dieses, sein erklärtes Anliegen gefunden hat. Dabei werden stillschweigend zwei Behauptungen gemacht. Die eine ist, Makhmalbafs Bilder könnten mit anderen Bildern verglichen werden, mit verlässlichen Realitätsparametern, an denen Kandahar zu messen sei. Die andere, schwerwiegendere Behauptung lautet, dass Film in der Tat verpflichtet sei, Realität wiederzugegeben. Die Verknüpfung dieser beiden Voraussetzungen führt zu einer unklaren ästhetisch-moralischen Gemengelage, im schlimmsten Fall zur Demagogie.

Jene Demagogie, mit der uns TV-Mafiosi gurrende, vor Freude tanzende Palästinenser-Omas als Feindbild zum Fraße vorwerfen. Jene Demagogie, mit der das White House die Ausstrahlung von Bin Laden-Videos verbietet – sie könnten „versteckte Befehle“ enthalten. Kleinstausschnitte, Mikrofragmente fragwürdiger Herkunft gelten ihr als Glied einer Indizienkette, deren Ende in die Forderung nach Empörung, Kontrolle und Vergeltung mündet.

Makhmalbaf wurde, unter anderem in der taz, vorgeworfen, sich dieser visuellen Demagogie zu bedienen. Kandahar sei eine ornamentale Bebilderung der furchtbaren Lebensumstände der afghanischen Bevölkerung, ignoriere deren historischen und politischen Hintergrund. In Vorwegnahme jener propagandistischen Impressionen, die uns CNN später bescherte, begnüge sich der Film mit ungenauen Eindrücken, deren emotionale und moralische Wirksamkeit sich einzig dem unvorstellbaren Elend verdanke, das sie belichten.

Dieser Vorwurf greift zu weit und er greift zu kurz. Kandahar will kein Dokument sein, dafür ist seine Erzählung zu sehr Parabel und die Verschachtelung der Tonspuren zu hintersinnig, dafür sind seine visuellen Motive zu komponiert. Gleichzeitig übersieht der Vorwurf die hervorragendste Leis-tung des Filmes: Seine bruchstückhafte Betrachtungsweise spiegelt die Bruchstücke, als welche die Minenkrüppel gezwungen sind, ihre Körper zu betrachten; spiegelt die Fragmentierung, von der das Leben und die Gefühle der Frauen und Kinder konstant bedroht sind. Diese Betrachtungsweise verhindert geradezu ein umfassendes Bild der Welt, ein Bild, wie es auch den Betroffenen systematisch verwehrt wird. Damit verfährt Kandahar gegenteilig zur Demagogie, die immer auf Komplettierung aus ist. Die titelgebende Stadt bleibt eine unerreichbare Silhouette im diesigen Wüstenlicht.

Makhmalbaf lässt ein Ballett aus Beinprothesen vom Himmel regnen, weil er überdeutlich reagieren muss auf Metaphern, deren Obszönität sich einzig die Realität ausdenken konnte: Sprengsätze in Kinderpuppen. Er lässt seinen Film zur Zeit der letzten Sonnenfinsternis des 20. Jahrhunderts spielen, weil der Blick aus der Burka sowieso immer verdunkelt ist. Er zeigt uns delirierend vor sich hin wippende und brüllende Koranschüler, weil er diese Bilder vorgefunden hat. Und er operiert mit diesen Bildern weniger in moralisierender Absicht, denn um ihre perspektivlose Monotonie offen zu legen.

Inmitten der Wüste, in einem Feldlazarett, bettelt ein Einarmiger: „Bitte gebt mir eine Hand.“ „Wir haben nur Beine hier“, antwortet die Rot Kreuz-Ärztin. „Gebt mir Beine für meine Mutter.“ – „Sie soll selbst kommen.“ – „Sie kann nicht, sie hat keine Beine.“ – In einem Interview hat Makhmalbaf geäußert, in Afghanistan sei die Realität von selbst surreal. Urs Richter

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