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: WLADIMIR KAMINER über Hochzeiten

Ein Messer für Frau Müller

Der Schriftsteller Günter Grass meinte neulich im Fernsehen, die Kultur und insbesondere die Literatur spiele in der gesellschaftlichen Entwicklung eine wichtige Rolle. Von daher wären die Politiker, die sich mit der Zukunftsgestaltung beschäftigen, gut beraten, wenn sie sich von den Schriftstellern belehren ließen. Zum Teil mag man Günter Grass zustimmen, doch es gibt Dinge, die viel mehr als die Literatur die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen, zum Beispiel die Wetterbedingungen oder die Geschlechtsteile. Insofern wären die Politiker bei Meteorologen oder Eheberatern besser aufgehoben als bei Grass.

Die politische Weltlage gleicht heute einer Ehe. Rund um den Erdball haben Kapitalismus und Sozialismus fusioniert, einen Ehebund geschlossen: In China, Russland, Deutschland und Vietnam wollen sie nun in guten und in schlechten Zeiten füreinander da sein. In dieser Partnerschaft übernahm der Kapitalismus zweifelsohne den Part des Bräutigams, des wilden Mannes, der lange Zeit ein Singledasein führte. Er hat keine Manieren, glaubt, dass man für Geld alles kaufen kann, und ist oft zynisch. Aber er ist sehr reich. Die Braut – der Sozialismus – ist von ihrem Angetrauten finanziell abhängig, versucht aber ein wenig Kultur in die Familie zu bringen. Außerdem kocht sie für den Kapitalismus und wäscht seine durchgeschwitzten T-Shirts.

Nirgendwo ist dieses Verhältnis offensichtlicher als in Deutschland. Denn hier hatte die Fusion nicht nur auf einer politischen Ebene stattgefunden, sondern auch direkt geografisch: Die BRD heiratete die DDR. Die Hochzeit kam für viele Außenstehende überraschend, internen Kreise galt sie jedoch längst als unvermeidlich. Die Braut war hochschwanger. Das Kind bekam den umständlichen Namen „Wiedervereinigung“ und kam ohne Kaiserschnitt zur Welt.

Die sozialistische Braut erwies sich schon gleich nach der Hochzeit als übersensibel und sogar als richtig zickig. Die Bundesrepublik ließ sich als typischer Ehemann mit Freunden voll laufen – in ihren altdeutschen Kneipen von Baden-Württemberg – und schimpfte: Schon die Hochzeit war ein teurer Spaß, die Braut befindet sich aber immer noch im Kaufrausch! Kauf mir ein Handy, kauf mir dies, kauf mir das … Wenn es aber zur Sache geht, dann hat sie sofort Kopfschmerzen, oder ihre Tage oder weiß der Teufel was … Auch die sozialistische Ex-DDR beschwert sich über ihren Ehemann, sie verdächtigt ihn, dass er sie nicht wirklich liebt. Woher sonst diese Geizigkeit?

Zu Hause gibt es inzwischen jeden Tag Krach. „Ich ackere den ganzen Tag“, schlägt sich der Kapitalismus mit der Faust auf die Brust, „und du sitzt nur vor dem Fernseher oder blätterst deine Versandhauskataloge durch. Geh doch arbeiten, mach mal was, lerne einen anständigen Job! Eine Krankenschwester- oder Computerausbildung zum Beispiel! Ich zahle dir auch die Umschulung!“ „Du kannst mich mal, du Arsch!“, widerspricht ihm die DDR und droht mit der Scheidung. Das kann sich der Ehemann aber nicht leisten, wegen der Globalisierung, der Steuerklasse und des Sex für umsonst. Richtig glücklich sind die beiden miteinander nicht.

In Russland ist es umgekehrt: Der Kapitalismus ist die Frau und wird auch tatsächlich durch reale Frauen verkörpert. Zum Beispiel durch Frau Müller, die in Moskau für das Deutsche Institut für Wirtschaftshilfe arbeitet. Sie wird ständig von sozialistischen Machos verfolgt, die alle nur das eine im Sinn haben: den verhassten und zugleich begehrenswerten Kapitalismus flachzulegen.

Jeden Tag bekommt Frau Müller in Moskau Heiratsanträge: von Taxifahrern, Kellnern oder einfach von männlichen Passanten, wenn sie in ihrem kapitalistischen Outfit zum Beispiel über den Roten Platz läuft. Manchmal sind es ganz interessante Männer. Doch jedes Mal, wenn sie die schicke Moskauer Wohnung von Frau Müller besuchen, die mindestens 2.000 Dollar im Monat kostet, werden sie stumm und verlieren ihre Manneskraft. Auf dem Parkettboden und unter den goldenen Lüstern können sie nicht. Das macht Frau Müller ganz melancholisch.

Auch die Männer finden es nicht toll, sie geben Frau Müller die Schuld. Sie wissen nicht, dass Frau Müller aus Halle kommt und in Magdeburg studiert hat. Ihr Moskauer Dilemma hat sich in den dortigen Kulturkreisen herumgesprochen. Und so entstand wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte Russlands eine lokale Rockband mit einem typisch deutschen Namen: „Ein Messer für Frau Müller“.