Bio-Ethik: Verseuchtes Mutterherz
■ Ivan Illichs Kritik am „Geschwätz von Wahrscheinlichkeit“
Ivan Illich will verstören. Und irritieren. Die Wut der anderen scheut der Philosoph nicht, der bekannt ist für radikale Kritik an Technologie und Medizin. Im Gegenteil. „Machen Sie sich Luft“, riet er den rund 120 ZuhörerInnen, die am Montag abend in die evangelische Kirche „Unser Lieben Frauen“ gekommen waren – zum Auftakt einer Diskussionsreihe über Ethik angesichts moderner Entwicklungen in der Medizin. Doch offen wütend zeigte sich im überwiegend grauhaarigen Publikum kaum jemand.
Dabei hatten Illich und seine Co-Referentin Silja Samerski zuvor kräftig an den Grundfesten jenes modernen Medizinverständnisses gerüttelt, das es heute zum Standard erklärt, per Gen-Untersuchung feststellen zu lassen, wie hoch das Risiko ist, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Unter dem Titel „Was heißt hier Entscheidung“, machten die beiden anschaulich, was aus ihrer Sicht „dieses Geschwätz über Wahrscheinlichkeiten unserer Gesellschaft angetan hat.“
Gleich eingangs fragte der frühere katholische Priester Ivan Illich (74), der seit rund zehn Jahren als Professor unter anderem auch an der Bremer Universität lehrt,: „Ist es denn vernünftig, nur davon zu träumen, dass man Christ sein kann – ohne ein radikales Danke. Nein?“ Die Fragen mit der Genetik „werfen für mich die Fragen der Menschwerdung auf“, bezog er sich „auf den heute undenkbar gewordenen ungeheuren Mut des Gottessohns: Des anderen Nächster zu werden – bedingungslos.“
Samerski konkretisierte, was Illich als „Geschwätz über Wahrscheinlichkeiten“ bezeichnet hatte. Die Doktorin der Philosophie, hat rund 30 genetische Beratungssitzungen protokolliert und analysiert. „Hier wird der Schwangerschaftsabbruch zur Option. Gute Hoffnung wird in Risikokalkül verwandelt. Es geht um Leben und Tod, aber niemals um Heilung“, stellte Samerski fest. Das Beratungsritual irritiere Frauen zutiefst. Die genetischen Begriffe, das Risiko-Denken im Alltag, „macht mein Herz und meinen Verstand zum Labor.“ Sie sei beunruhigt, dass die „informierte Entscheidung“ der Frau im „Verrat“ dessen münde, „was sie unter dem Herzen trägt.“
Kein Aufschrei im Publikum. Allerhöchstens kritische Fragen – der Humangenetikerin beispielsweise, die darauf bestand, dass keine Beratung stattfinde, wenn die Frau keine Frage habe. „Was waren denn die Fragen der Frauen, die sie beobachtet haben?“ Nur eine sehr junge Frau gab es, die jungen, ungewollt Schwangeren doch wenigstens die Chance zur Untersuchung geben wollte. Um sich vielleicht erst dann zu entscheiden. Es seien nicht alle so erfahren wie die anwesenden Älteren – und nicht jeder so voller „Gottvertrauen“ wie eine von der Referentin zitierte Ratsuchende.
Derweil saß die Humangenetikerin mit vorm Bauch verschränkten Armen, der Blinde hatte unterdessen der Mutter einer körperbehinderten 20-Jährigen applaudiert, für die ein Leben ohne die Tochter schlimm wäre – und eine Mutter von zwei gesunden Töchtern hatte geseufzt: „Was für ein Glück, dass das früher anders war. Wie schlimm für die jungen Frauen heute.“ Nur der Jurist hatte eingewendet: „Juristisch entscheidet die Mutter nur über das Kind-Mutter-Verhältnis. Nicht über das Lebensrecht des Ungeborenen.“ Seine Frage, ob Illich sich vorstellen könne, dass Menschen darum ringen, ein religiöses Leben auch mit Einrichtungen zur vorgeburtlichen Diagnostik zu leben, blieb unbeantwortet. Eva Rhode
„Menschen nach Wunsch? – Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik“ heißt der nächste Vortrag der Reihe am 6. Februar um 20 Uhr, Kirche Unser Lieben Frauen.
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