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Nah am Realitätsverlust

Bürgermeister Ole von Beust gibt dem eigenen Senat die Note 2 minus. Ronald Schill gibt sich nach 100 Tagen nur Bestnoten  ■ Von Peter Ahrens

Vorn vor der versammelten Presse sitzen der Bürgermeister Ole von Beust, sein Stellvertreter Ronald Schill und FDP-Bildungssenator Rudolf Lange und loben ihre Arbeit nach drei Monaten Regierung. Anschließend erhält Lange von den JournalistInnen keine Nachfrage, von Beust drei Fragen, Schill 17 Fragen. Der ehemalige Amtsrichter steht unter Beschuss, muss sich rechtfertigen, Ole von Beust neben ihm, der an sich die Verantwortung für den Senat trägt, darf sich ungestört zurücklehnen. Es läuft in seinem Sinne.

Koks, Schickeria-Vermerk, Umfragentief – Ronald Schill ist angezählt, will das nach außen aber nicht wahrhaben. „Das ist alles das Bemühen unserer Gegner, Gerüchte zu einem giftigen Gemisch zusammenzubrauen“, kommentiert er die zurzeit auf ihn niederprasselnden Vorwürfe: „Das macht uns nur noch stärker.“

Kritik kommt inzwischen auch aus der Wirtschaft. Werner Marnette, der Vorstandschef der Norddeutschen Affinerie und Vorsitzende des Hamburger Industrieverbandes, erklärte zum Fall Schill gegenüber Hamburg 1: „Ich denke, dass wir alle Gefahr laufen, beschädigt zu werden und vor allem die Stadt.“ Es gebe „viele Herren im Senat, die noch unerfahren im politischen Geschäft sind und die sich im persönlichen Bereich schlecht entwickeln“.

Schill zeigt sich unbeeindruckt und bleibt dabei: Vorrangig werde er gegen die offene Drogenszene vorgehen, nicht gegen die „Drogenkriminalität hinter geschlossenen Türen“. Es sei die offene Drogenszene, die „die Attraktivität des Standortes Hamburg beeinträchtigt“. Die Verfolgung der Schickimicki-Drogenszene sei „auch wichtig, aber wir können uns das personell nicht leis-ten, ohne die Verfolgung der offenen Szene einzuschränken“. Es sei aber „polemisch und irreführend“, ihm vorzuwerfen, die Schickimickies gar nicht zu verfolgen: „Auch die bleiben im Fokus der Fahndung.“ Jedoch gebe es in der Schickeria nicht das Problem der Beschaffungskriminalität. Man wolle „dem Kranken Drogenhandel vielmehr die Hände abschlagen“, statt die Hintermänner der Szene direkt anzugehen.

Für seinen ebenfalls unter Druck geratenen Staatsrat Walter Wellinghausen gab Schill eine Ehrenerklärung ab: Wellinghausen genieße „in der Polizei hohe Akzeptanz“, im „Polizeiskandal, den es in Wahrheit nie gab“, sei Wellinghausen als Verteidiger „Retter in der Not gewesen“.

Unruhe im Polizeiapparat über den Innensenator verwies er schlicht ins Reich der Fabel. „Machen Sie eine Umfrage unter Polizisten über meine Beliebtheit, und Sie werden ein Ergebnis bekommen, das sonst nur Erich Honecker erzielt hat: 98 Prozent.“ Die übrigen zwei Prozent seien „eng in die alte Regierung involviert“. Und auch, dass seine Partei in Umfragen über fünf Prozent verloren hat, stimme nicht. „Dasselbe Institut hat uns im Wahlkampf bei zwölf Prozent gesehen – also haben wir um drei Prozent zugelegt.“

Bei solch bahnbrechenden Rechenkünsten wollte auch von Beust nicht mit einer Zahl zurückstehen. Wenn er dem Rechtssenat nach 100 Tagen eine Schulnote geben müsste, dann wäre das, so der Bürgermeister, „eine 2 minus“.

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