: Japan lernt einen Helden kennen
aus Kamakura und Yaotsu FRIEDEMANN HOTTENBACHER
Yukiko Sugiharas Erinnerung ist immer noch lebendig. Obwohl alles so lange her ist. Aber sie erinnert sich genau, wie ihr Mann ohne Pause Visa ausstellte, damals im litauischen Kaunas. Tagelang. Wie er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Und wie ihnen im September 1940, als die Familie Kaunas gen Berlin verlassen musste, die Juden bis auf den Bahnsteig folgten. Noch vom Zugfenster aus schrieb Chiune Sugihara Visa auf einfache Zettel. An die verzweifelten Blicke der Menschen auf dem Bahnsteig kann sich Yukiko noch gut erinnern. „Dort wurde über Leben und Tod entschieden. Wer kein Visum bekam, wurde früher oder später umgebracht.“
Die 88-Jährige erzählt die Erlebnisse eher nüchtern und zurückhaltend. Yukiko Sugihara will einem die Taten ihres Mannes nicht aufdrängen, obwohl durch sie 6.000 Juden dem Tod entgingen. Der eleganten Frau mit den wachen Augen sieht man ihr Alter nicht an. Schwiegertochter Michiko, eine große, schlanke Frau, serviert englischen Tee. Das europäisch eingerichtete Haus in Kamakura am Rande Tokios atmet den Geist vergangener Weltläufigkeit. Ein Aschenbecher aus Deutschland, Kerzenständer aus Skandinavien, russische Puppen. Zeugnisse einer Diplomatenlaufbahn. Helsinki, Kaunas, Berlin, Prag, Königsberg, Bukarest. „Ein spannendes Leben. Ich bereue nichts. Auch nicht, dass er sich damals für die Ausstellung der Visa entschied.“
Das war im Sommer 1940. Sugihara war gerade als Konsul nach Kaunas berufen worden, als sich vor dem Konsulatsgebäude und Wohnhaus Schlangen verzweifelter Juden bildeten. Um den vorrückenden Deutschen zu entkommen und in ein sicheres Drittland zu gelangen, blieb für sie nur die Flucht gen Osten durch Sibirien. Es sprach sich herum, dass Japan ein mögliches Transitland für eine Weiterreise nach Palästina oder Amerika war. Tagelang verhandelte Sugihara mit Tokio. Die Beamten blieben hart: keine Ausnahmen für jüdische Flüchtlinge. Drei Tage und Nächte, erzählt seine Frau, habe er um die Entscheidung gerungen. „Am Morgen sagte Chiune, dass er jetzt was ganz Verrücktes machen werde. Etwas, was keiner machen würde. Wir wussten, auf was wir uns da einließen.“ Nach Kriegsende wurde Chiune Sugihara ins Außenministerium bestellt. Seine Frau berichtet kühl: „Man sagte ihm, für jemanden wie ihn sei kein Platz mehr.“
Da schien für die Sugiharas das Kapitel abgeschlossen. Dass die meisten Juden mit seinen Visa tatsächlich über Wladiwostok nach Japan und dann nach Schanghai gelangten, wo sie das Kriegsende abwarteten, wussten sie jahrzehntelang nicht. Währenddessen suchten überlebende Juden aus Israel und den USA jahrelang erfolglos nach dem Mann, der sie gerettet hatte. 1968 wurde er endlich über die israelische Botschaft gefunden. Es folgten Ehrungen und Auszeichnungen. In Israel war er fortan der bekannteste Japaner, während ihn in seiner Heimat keiner kannte. Erst nach seinem Tod 1986 wurde die Geschichte dort bekannt, allerdings nur allmählich.
Yaotsu, ein verschlafener Ort inmitten der japanischen Berge, rund 600 Kilometer von Tokio entfernt. „It’s beautiful, isn’t it?“ – die israelische Führerin zeigt auf die Talebene. Auf einer Anhöhe ragen wie Wachtürme drei oben spitz zulaufende Stelen aus gestapelten Steinplatten in den blauklaren Himmel. Stapel von Visapapieren. Auf dem Boden finden sich in Stein gemeißelt drei japanische Schriftzeichen und ihre englische Entsprechung: Liebe, Mitgefühl, Mut. Die Führerin zieht an einem Seil. In der Turmspitze ertönt eine Glocke wie in einer europäischen Dorfkapelle. Die Frau erklärt: „Von hier aus soll die Botschaft nach Yaotsu und in die ganze Welt getragen werden.“
Aus Yaotsu kommt die Familie Sugihara. Aber im Ort wusste niemand etwas von der Bedeutung des Mannes. Jetzt leistet sich die Stadt seinetwegen eine Mitarbeiterin aus Israel, sie ließ einen „Hügel der Menschlichkeit“ mit Parkanlage anlegen, es gibt die Gedenkstätte und ein Museum.
Im Museum, einem Holzbau mit vielen Fenstern, besichtigen ein dutzend Besucher Texttafeln, Schaukästen, Fotos und Originaldokumente. Wer will, kann sich sein eigenes „Visum zum Leben“ stempeln. Befehlsverweigerung und Illoyalität werden lieber nicht beim Namen genannt.
Eine Familie, die sich zuvor ihr „Visum“ stempelte, kommt heraus. Die Mutter fragt sich: „Ob ich solch einen Mut aufbringen könnte?“ Die Familie erfuhr von der Existenz durch den zwölfjährigen Sohn Ryuhei. Der Junge entdeckte ein Buch über Sugihara in der Bibliothek und drängte seine Familie zum Museumsbesuch. Er sagt: „Ich habe hier gelernt, Menschen in Not zu helfen.“ Die Familie ist sich einig. Sugihara habe die richtige Entscheidung getroffen. Drei Frauen im mittleren Alter kommen schnatternd aus dem Museum. „Ein ehrenhafter Mensch“, sagt eine begeistert.
„Er war ein edler Mann. Ein großer Japaner der alten Garde“, findet auch Hasegawa. Hasegawa ist Rentner und Ureinwohner Yaotsus. In einem Sushilokal im Ort erzählt er, wie es zur Entdeckung Sugiharas kam. Hasegawa redet viel und leise, so als ob er brisante Informationen preiszugeben hätte. Persönlich kannte er Sugihara nicht, aber er war der Erste, der Recherchen anstellte, nachdem eine Zeitung über den Tod Sugiharas berichtet hatte. Im Stadtregister fand er auch den Namen des Vaters, aber niemanden, der den Diplomaten gekannt hatte. Denn in Yaotsu selbst lebte Sugihara nur einige Jahre als Kind. Aber geboren worden sei er hier nicht, sagt Hasegawa. Mehrmals versuchte Hasegawa, die Beamten von der Statdverwaltung für die Geschichte zu begeistern, stieß jedoch auf wenig Interesse. Eine jener Begebenheiten, die zeigen, wie schwer sich die Japaner mit ihrem Helden lange taten. „Erst als der Gouverneur der Präfektur davon hörte, machte er den Stadtvätern Druck“, erinnert sich Hasegawa.
Unpassende Rührseligkeit?
1994 wurde der „Hügel der Menschlichkeit“ angelegt. Rund 5,5 Millionen Euro ließen sich Stadt und Präfektur die neue Attraktion in dem sonst attraktionslosen Ort kosten. Vor zwei Jahren wurde das Museum eingeweiht, das vor allem über Spenden aus Israel und den USA finanziert wurde. Hasegawa ist über die Zeit skeptisch geworden. „Während Sugihara lebte, redete er nie über seine Tat. Es war ihm eine Selbstverständlichkeit, aus der er keine große Sache machen wollte. Ehre, wem Ehre gebührt. Aber jetzt entgegen seinem Geist rührselige Geschichten über ihn zu verbreiten, finde ich fragwürdig.“
Besuch im Rathaus. Bürgermeister Akatsuka sieht aus, wie professionelle Politiker in Japan aussehen. Die lichten Haare glatt nach hinten gelegt, ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel. Seine Augen schauen vorsichtig hinter einer goldumrandeten Brille hervor. „Wir möchten einen Ort, von dem Frieden in die Welt ausgeht, einen Ort der Erziehung, an dem Kinder lernen, wie wertvoll Leben ist und wie wichtig es ist, das Richtige zu tun.“ Der Bürgermeister ist zufrieden. Mehr als 30.000 Besucher im ersten Jahr könne das Museum verzeichnen, sagt Akatsuka und schiebt hinterher, dass die Gedenkstätte natürlich kein Disneyland sei. Und: „Die Bürger Yaotsus sind stolz auf Sugihara.“
Auf den Gängen des Rathauses hört man anderes. Die meisten der 14.000 Einwohner hätten das Museum noch gar nicht besucht, sagt ein Beamter, Sugihara und das Museum seien kaum bekannt in Japan. Im Ort rege sich zudem Unmut, berichtet er: „Einige Leute wollen nicht einsehen, dass mit ihren Steuergeldern ein Mann wie Sugihara geehrt wird, während sie selber ihre Angehörigen im Krieg verloren haben.“
Nicht gerade „hot“
Für Hasegawa, der Sugihara für den Ort entdeckt hat, liegt die Sache so. „Die Leute interessiert das einfach alles gar nicht.“ Das ist auch nicht verwunderlich. Sorgen gibt es genug. Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Schulen müssen mangels Nachwuchs schließen, die einzige Bahnverbindung nach Yaotsu wird eingestellt. Mit einem plötzlichen Aufschwung durch die Gedenkstätte ist vorerst nicht zu rechnen. Aber der Bürgermeister denkt weiter. Noch seien die laufenden Kosten für die Gedenkstätte gering und ließen sich durch Eintrittsgelder und aus dem städtischen Etat finanzieren. In ein paar Jahren will Akatsuka die Aktivitäten ausweiten und dafür braucht er Geld aus Tokio. „Das Japan, das einen Sugihara hervorbrachte, soll sich auch finanziell an seinem Gedenken beteiligen.“ Im Außenministerium wurde der Bürgermeister bereits vorstellig. Für finanzielle Unterstützungen im Inland sei es nicht zuständig, sagte man ihm. Wie sonst die Beziehung zu Sugiharas ehemaligem Arbeitgeber sei? Akatsuka antwortet diplomatisch: „Sie stellten uns Dokumente zu Verfügung. Aber ‚hot‘ ist das Verhältnis nicht gerade.“ Dabei verzieht er keine Miene.
Sugihara ist für viele offensichtlich ein sperriger Held. Einige Menschen und Regierungsstellen in Tokio werden froh sein, das Yaotsu so weit weg liegt. Für Yukiko und Schwiegertochter Michiko aus Kamakura liegen die Dinge auf der Hand: „Immer noch sitzen im Außenministerium Beamte der alten Garde, die Chiunes vermeintliche Illoyalität nicht verwunden haben. Wenn Yaotsu etwas für den Aufschwung des Ortes tun möchte, ist das in Ordnung. Aber bitte mit Spenden und nicht mit Geldern des Ministeriums.“
Zu viel staatliche Huldigung Sugiharas könnte auch aus anderen Gründen unwillkommen sein. Die Aufarbeitung der japanischen Geschichte geschieht sehr zögerlich. Obwohl es in den vergangenen Jahren genügend Anstöße gibt. Klagen von ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsprostituierten, Opfer der japanischen Aggression, Proteste gegen die offizielle Verehrung der gefallenen Soldaten, unter ihnen verurteilte Kriegsverbrecher, als Götter und eine Debatte über revisionistische Geschichtsschulbücher.
Dass die eigene Geschichte Japans und die Geschichte Asiens anders verlaufen wäre, wenn es mehr Menschen mit der Courage Sugiharas gegeben hätte, daran mag niemand so recht denken. Im Gegenteil. Ein älterer Museumsbesucher sagt: „Unsere Soldaten haben tapfer gekämpft, genauso wie die Deutschen. Es hat nicht viel zum Sieg gefehlt.“ Ob viele dieser Meinung sind? Ein anderer Tourist sagt: „Japaner leben in einer Gruppengesellschaft. Man macht, was alle machen. Doch etwas Richtiges muss getan werden, auch wenn keiner es tut. Das entspricht Sugiharas Geist.“
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